I N T E R V I E W Widerspruch zwischen Wort und Tat

■ Der sowjetische Oppositionelle Anatolij Martschenko starb im Lager / Ein Gespräch mit Lew Kopelew

Am 9. Dezember erhielt die Frau von Anatolij Martschenko, Larissa Bogoras, ein Telegramm aus dem Gefängnis Tschistopol am Ural, daß ihr Mann im Gefängnislazarett gestorben sei.“ Anatolij Martschenko, der als 18jähriger Arbeiter zum ersten Mal verhaftet und im Straflager zum Schriftsteller wurde, war einer der aktivsten, tapfersten und selbstlosesten Kämpfer für die Menschenrechte“, erklärte gestern der sowjetische Schriftsteller Lew Kopelew. Sechsmal ist er wegen dieser Haltung zu Gefängnis, Lagerhaft und Verbannung verurteilt worden. Zur Zeit seines Todes hatte er gerade die Hälfte einer zehnjährigen Strafe wegen „antisowjetischer Hetze und Propaganda“ verbüßt. taz:Der Tod von Anatolij Martschenko hat das Problem der politischen Gefangenen in der Sowjetunion in den Vordergrund gerückt. Gibt es denn eine realistische Chance, daß sich für die politischen Gefangenen in der Sowjetunion etwas ändert? Lew Kopelew: In der Sowjetunion ist manches in Bewegung gekommen. Und Gorbatschow, seine Mitarbeiter, die zentrale Presse in der UdSSR, die sprech nur das gemacht, was heute öffentlich in der Sowjetunion gefordert wird. Ein Widerspruch zwischen Wort und Tat... Solange diese Diskrepanz nicht aufgehoben ist, ist keine sowjetische Regierung glaubwürdig. Anatolij, der sechs Mal verhaftet war, war ein hartnäckiger, fanatischer Wahrheitssucher, auch in der Haft hat er nicht nachgelassen zu protestieren, er wurde gefoltert, mit Hunger und Frost, wurde zusammengeschlagen von den Wächtern. Am vierten August erst ist er in einen Hungerstreik getreten und hat einen Brief an die KSZE–Konferenz in Wien geschrieben und die Bestrafung der Wächter und Folterer verlangt. Er verlangte ein Wiedersehen mit Frau und Sohn, die er seit Jahren nicht sehen durfte. Wichtig ist jetzt, denen zu helfen, die immer noch in den Lagern sind. Wieviele politische Gefangene gibt es in der UdSSR heute noch? Namentlich sind etwa 1.000 bekannt, doch nur weil die meisten nicht in politischen Lagern einsitzen, die meisten werden ja kriminalisiert. Im Ganzen sind es über 8.000 bis 9.000 Menschen. Neben den Bürgerrechtlern also alles Leute , die aus dem normalen Leben herausfallen. Ja, alle, die sich nicht einordnen lassen, die Wahrheiten sagen, die den Behörden mißfallen. Glauben Sie, daß Gorbatschows Politik unglaubwürdig ist, solange politische Gefangene einsitzen? Ja, ich bin dieser Meinung. Ich weiß nicht, was Gorbatschow persönlich will, ich möchte das Beste von ihm denken. Aber solange Menschen in Lagern sitzen, solange sowjetische Truppen in Afghanistan bleiben, solange man über die Vergangenheit, über Stalins Verbrechen, über den verbrecherischen Hitler–Stalin Pakt die Wahrheit nicht sagen und schreiben darf, glaube ich nicht, daß Gorbatschow auch wirklich das tun kann, was er verkündet. Interviewer Erich Rathfelder