Chiracs rechte Reformen gestoppt

■ Parlamentsdebatte über Ausländergesetzgebung und Privatisierung der Gefängnisse auf April 1987 verschoben / Schweigemärsche für den von der Polizei getöteten Malik Oussekine in ganz Frankreich / Chirac vom Druck der Straße gebeugt

Aus Paris Georg Blume

Frankreichs Ministerpräsident Chirac ist den Demonstranten zuvorgekommen. Vor den Parlamentsabgeordneten der Regierungsfraktionen verkündete er am Dienstagabend über die Rücknahme der umstrittenen Universitäts– und Schulgesetze hinaus einen umfassenden Reformstopp. Chirac vertagte die Parlamentsdebatte einer Reihe wichtiger Regierungsvorhaben vom Dezember auf April 1987, so unter anderem die Neuregelung zum Erlangen der Staatsangehörigkeit für Ausländer und die Einführung privater Gefängnisse. Die Kritik an diesen Vorhaben hatte in den Vollversammlungen der Studenten be reits zu lebhaften Diskussionen über eine Fortsetzung ihrer Bewegung geführt. Am Mittwochnachmittag trauerten in Paris zwischen einer halben und einer Million Menschen um Malik Oussekine, den von Polizisten am Freitag ermordeten Studenten. An der Spitze des Schweigemarsches vom Quartier Latin zum Place de la Nation trugen Angehörige der Opfer der Polizeiausschreitungen eine schwarze Banderole. Die „Nationale Koordination“ der Studenten hatte für den Tag eine einzige Parole herausgegeben „Nie wieder so etwas“ und die Demonstranten zum Schweigen aufgerufen. Schweigemärsche zum Gedächtnis an Malik Oussekine fanden am Mittwoch in Frankreich im ganzen Land statt. In Lyon demonstrierten 30.000 Menschen. Für die „Nationale Koordination“ begrüßte Jean–Pierre Gaigne, Delegierter aus Marseille den Reform stopp der Regierung. „Die Regierung hat sich vom Umfang der Bewegung überzeugen können. Indem sie ihre Gesetze zurückzieht, die die Ausländer betreffen, trägt sie dem Antirassismus der Jugend Rechnung. Die Regierung weiß heute, daß wenn die Jugend etwas zu sagen hat, sie es auch tut.“ Fortsetzung Seite 6 Kommentar Seite 4 Staatspräsident Franois Mitterrand bezeichnete in einem zweistündigen Radiointerview am Dienstag abend den Reformstopp der Regierung als „Akt der Weisheit, der es den Franzosen erlaubt, leichter zu ihrem nationalen Zusammenhalt zurückzufinden“. Er unterstrich, daß er die Regierung erst gebeten, ihr dann empfohlen und schließlich von ihr verlangt habe, die umstrittene Universitätsreform zurückzuziehen. Mitterrand definierte seine Rolle in der Krise als Schiedsrichter, aber auch Richter, „der die Partie abpfeift“. Er stellte sich hinter die Regierungsentscheidungen und solidarisierte sich gleichzeitig mit der Studentenbewegung. „Die Oberschüler und Studenten wußten sehr gut, daß ich mit ihnen auf einer Wellenlänge lag. Ich verstand sie gut, aber konnte und wollte nicht darüber hinausgehen.“ Den Demonstrationsslogan der Bewegung „Nie wieder so etwas“ wiederholte der Präsident auf seine Art: „Nie wieder Gewalt unter Franzosen. Erheben wir uns nicht gegeneinander und nicht gegen den Staat.“ Franois Mitterrand gestand damit indirekt ein, daß sich die Revolte der Studenten, wie alle ihre historischen Vorläufer seit der französischen Revolution, einmal mehr gegen den Staat hätte richten können. Die französischen Gewerkschaften, die bis auf die kommunistische CGT ihre Beteiligung an dem von den Studenten für gestern geforderten Generalstreik zunächst abgesagt hatten, entschlossen sich nach Zögern doch für eine Teilnahme an den Demonstrationen zum Tode von Malik Oussekine, nachdem selbst bei der CGT von einem Generalstreik keine Rede mehr war. In den Vollversammlungen der Universitäten kündigte sich am Mittwoch ein rasches Ende der studentischen Streiks an. In der nächsten Woche will die „Nationale Koordination“ der Studenten eine unabhängige „Reflexions– und Vorschlagskommission“ einberufen, die über die Verhandlungsangebote der Regierung und die Perspektiven der Bewegung beraten soll. Währenddessen dauert die Diskussion über das Verhalten der Polizei bei den Demonstrationen am Wochenende an. Berichte, denen zufolge die Ordnungskräfte rechtsradikalen Provokateuren freies Geleit und Schutz gaben bzw. Zivilpolizisten zu den Gewaltausbrüchen beitrugen, wurden von einigen Zeitungen dementiert, blieben aber umstritten. Nach dem UNO–Modell der „Blauhelme“ wachte am Mittwoch eine Vereinigung prominenter Berater, Anwälte und Ärzte, die sich „Weißhelme“ nennen, über den friedlichen Verlauf der Demonstration.