500 politische Gefangene sind in Chile im Hungerstreik gegen Folter und Todesstrafe

■ Für 14 Mitglieder des MIR wurde die Todesstrafe beantragt / Drei Todesurteile wieder zurückgenommen / Familienangehörige hoffen auf Druck aus dem Ausland

Aus Santiago Willi Huismann

Zum Abschluß der Marienfeste im Dezember ziehen bei glühender Hitze Zehntausende Gläubiger auf den Berg San Christobal, 300 Meter hoch. Ihr Ziel ist das marmorne Standbild der Mutter Gottes, Wahrzeichen der Stadt Santiago. Lautsprecher in den Bäumen übertragen die stündlich abgehaltene Messe zu Ehren Marias. Plötzlich bahnt sich eine Prozession von etwa 2.000 Mitgliedern der Basisgemeinden den Weg durch die schwitzende und das Religionspicknick genießende Menge. Sie halten Transparente in die Höhe: Solidarität mit den politischen Gefangenen, keine Todesstrafe, Schluß mit der Folter in den Gefängnissen. Viele Sonntagschristen erfahren so zum ersten Mal, daß sich die 500 politischen Gefangenen Chiles seit dem 1. Dezember im Hungerstreick befinden. Die Tageszeitungen schweigen dazu, denn der „Belagerungszustand“ wurde vor einer Woche wieder um 30 Tage verlängert und damit auch die verschärfte Pressezensur. Auf meine Frage, was die politischen Gefangenen mit Maria zu tun haben, antwortet eine Nonne: „Die politischen Gefangenen leiden für ihre Mitmenschen, wie Jesus. Die Mütter und Ehefrauen sind wie Maria: Voller Schmerzen aber mutig im Kampf.“ Mut brauchen vor allem die Angehörigen der 14 Mitglieder des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria), für die der Militärstaatsanwalt wegen „Terrorismus“ die Todesstrafe beantragt hat. Die hessische Landesregierung hat diesen Gefangenen Asyl angeboten, das Bundesministerium besteht jedoch noch auf eine Sicherheitsüberprüfung. Unter den Pilgern treffe ich auch Sylvia, Mutter von drei Kindern. Ihr Lebensgefährte Hugo Marchant gehört zu den vierzehn und wurde gemeinsam mit zwei Companeros vor zwei Wochen zum Tode verurteilt - ein Urteil, das das Oberste Kriegsgericht am vergangenen Donnerstag wieder aufgehoben hat. Sylvia erzählt über die Solidarität mit den Gefangenen: „Die Kirche hat uns im Stich gelassen, die bürgerliche Opposition auch - weil das ihren Dialog mit dem Regime belasten könnte. Wir sehen nur eine Chance für unsere Companeros, wenn der Druck von außen stärker wird. Die Initiative aus Hessen ist eine unserer großen Hoffnungen. Ein Asylangebot aus der Bundesrepublik zum jetzigen Zeitpunkt würde den Prozeß positiv beeinflussen. Entweder damit es Haftstrafe statt der Todesstrafe gibt, oder aber, es wäre leichter, einflußreiche Leute aus Kirche und bürgerlicher Opposition dazu zu bewegen, sich für eine Umwandlung der Strafen in eine Ausweisung einzusetzen. Wir hätten auf alle Fälle mehr Handlungsspielraum.“ „Folter, die gab es im Mittelalter“ Seit dem Erlaß des Antiterrorismusgesetzes im März 1984 hat die Militärjunta den Mord am politischen Gegener mit juristischen Weihen versehen. Die Generale, die den Militärgerichten vorsitzen, haben ein neues Schlachtfeld im Kampf gegen den „von der Sowjetunion und Kuba gesteuerten Terrorismus“ entdeckt. Die Rechte der Anwälte sind minimal, einmal verhängte Haftstrafen dürfen nicht mehr verkürzt werden und sind in der Regel doppelt so hoch wie bei Zivilgerichten. Die Todesurteile der vergangenen Woche stützen sich vor allem auf die „Geständnisse“ der Gefangenen. Sie sollen 1983 den Gouverneur von Santiago, General Carol Urzna, bei einem Attentat getötet haben. Sylvia erinnert daran, wie das „Geständnis“ ihres Freundes Hugo Marchant zustandekam: „Hugo war 15 Tage lang in den Händen des Geheimdienstes CNI. Sie schlugen ihn, schnitten ihm die Augenbrauen auf und legten Stromkabel in die Wunde. Sie holten mich und meine Kinder, eines drei Jahre alt, das andere acht Monate. Die Kinder schrien, als sie mich schlugen. Hugo mußte sich das anhören, und sie machten ihm klar: wenn du nicht redest, bringen wir sie um.“ Militärrichter Samuel Rojas, der die drei Todesurteile gefällt hat, sagte vor wenigen Tagen in einem Interview mit einem nordamerikanischen Journalisten: „Wir leben im 20. Jahrhundert. Folter das ist ja zum Lachen. Sowas gab es im 14. oder 15. Jahrhundert. Heute sind die Untersuchungsmethoden so effektiv, daß man die Wahrheit erfährt, wenn man sich ganz einfach mit dem betreffenden unterhält.“ Auftakt zum Justizmassenmord? Zwei Jahre lang hat die Militärjustiz die Prozesse vor sich hergeschoben. Warum jetzt die Todesurteile? Dazu sagt Doris, die Schwägerin des ebenfalls zum Tode verurteilten Jorge Palma: „Vor allem braucht die Militärjustiz Präzedenzfälle. In den letzten Wochen sind Dutzende von Mitgliedern der FPMR (Ppatriotische Front Manuel Rodriguez) verhaftet worden. Sie sollen Waffenarsenale angelegt und das Attentat gegen Pinochet durchgeführt haben. Es wird eine Welle von Todesurteilen auf uns zukommen, wenn es der Diktatur gelingt, die jetzt gefällten zu vollstrecken.“ Die Gefangenen der FPMR, die erst jetzt nach Wochen der Isolierung mit ihren Anwälten und Angehörigen reden durften, berichten über diverse Foltermethoden: Elektroschocks, Aufhängen an den Armen, Scheinerschießungen, Drogen, die zu Bewußtseinsstörungen und Halluzinationen führen, das Einführen von Ratten in Mund und Kleidung. In einem Fall scheint der Geheimdienst CNI nicht einmal das Todesurteil abwarten zu wollen. Es handelt sich um Victor Diaz Caro. Er ist der Sohn des 1976 Verhafteten und Verschwundenen Zweiten Vorsitzenden der KP Chiles, Victor Diaz und soll am 8. September persönlich auf Pinochet geschossen haben, um seinen Vater zu rächen. Noch während der Verhöre meldete die juntatreue Presse: „Victor Diaz Caro versuchte Selbstmord in der Zelle“. Darunter eine Kopie des handgeschriebenen Selgstmordbekenntnisses. Die Mutter von Victor Diaz hält das „Dokument“ für eine Fälschung. Für sie ist der „Selbstmordversuch“ der erste Schritt zur Liquidierung ihres Sohnes. Hungern für die Freiheit Rechtzeitig bevor die Oppositionsführer und die Regierungsbeamten mit ihren Familien zum Weihnachts–Sommer–Urlaub an die Küste fahren, wollen die politischen Gefangenen mit ihrem Hungerstreik eine öffentliche Diskussion über ihre Lage und über die Todesstrafe erzwingen. Sie fordern: Nein zur Todesstrafe, Freiheit für alle politischen Gefangenen, Freigang auf Bewährung, Sonntagsurlaub, Recht auf Haftverkürzung und Anerkennung als politische Gefangene, damit sie in den Genuß einer auch von Chile unterschriebenen internationalen Vereinbarung kommen, nach der politische Gefangene nicht zum Tode verurteilt werden dürfen. In Santiago sind die politischen Gefangenen in den Galerien neun und zehn des öffentlichen Gefängnisses untergebracht. Ihr psychischer Zustand ist nach zehn Tagen Hungerstreik noch gut. Bei einigen treten erste Gesundheitsprobleme auf; Hugo Marchant und Carlos Araneda, die nach sechsmonatiger Einzelhaft bei Wassersuppe mit Bohnengeschmack halb verhungert sind, fühlen sich schwach. Starke Schmerzen hat Jorge Plama, der die Milz und eine Niere verloren hat, nachdem er im Oktober 1985 von Wachsoldaten angeschossen worden war. Bedenklich ist auch der Zustand von Carlos Garcia, dem noch eine Kugel in der Hüfte steckt. Der Hungerstreik soll solange fortgesetzt werden, bis nationale und internationale Proteste ihre Wirkung zeigen. Als Erfolg verbuchen die Hungerstreikenden die Erklärung der österreichischen Regierung, nach der die Beziehungen zwischen den beiden Ländern stark eingeschränkt würden, sollten Todesurteile vollstreckt werden. Todesurteil ungültig Die Erklärung der österreichischen Regierung dürfte mit ein Grund dafür sein, daß die Kriegsjustiz jetzt einen vorsichtigen Rückzieher gemacht und das Urteil der ersten Instanz für ungültig erklärt hat. Denn Hugo Marchant, Jorge Palma und Carlos Araneda sind nach den Bestimmungen des „Antiterrorismusgesetzes“ verurteilt worden, also eines Gesetzes, das es zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung noch gar nicht gab. Außerdem hatte Militärrichter Samuel Rojas während des Prozesses Entlastungszeugen der Verteidigung nicht zugelassen.