Blaupausen für Südafrika

Seit einiger Zeit beschäftigen sich der ANC und die der südafrikanischen Befreiungsbewegung nahestehende Organisationen um den Entwurf einer neuen Gesellschaft in Südafrika. Eine Art Blaupause des komplexen Transformationsprozesses des Apartheid–Staates in eine freie, sozialistische Gesellschaft soll entstehen. Auf bislang drei Konferenzen wurde in den letzten Monaten versucht, die beim Veränderungsprozeß auftretenden Probleme aufzulisten und die Informations– und Forschungslücken zu benennen. Die Zukunftsplanung ist in Südafrika nicht erst seit dem Ausnahmezustand schwierig, weswegen die Koordination und Diskussion der verschiedenen Forschungsprojekte auch im Ausland stattfindet. Die national–demokratische Revolution in Südafrika sei die Vorstufe zum vom ANC anvisierten Sozialismus. Mit solchen klassenkämpferischen Parolen versuchte ein ANC–Vertreter aus Lusaka den übrigen Teilnehmern des bislang letzten Arbeitstreffens dieser Art am Wochenende in Amsterdam den ideologisch richtigen Weg zu weisen durch das Labyrinth der konkreten Utopie eines Südafrika nach der Apartheid. Der Führungsanspruch des ANC blieb während des Treffens weitgehend unwidersprochen. Entsprechend blieb die Frage der politischen Durchsetzung der zur Diskussion stehenden Vorschläge ausgeblendet. Machtteilung oder Machtwechsel? Die meisten Diskutanten gingen von einem relativ friedlichen Übergang innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre aus. Die Einschätzung basiert auf der Hoffnung, daß die weiße Minderheit in Südafrika durch die sich verschärfende Wirtschaftskrise zur Einsicht gezwungen wird. Ob diese Annahme realistisch ist, wurde ebenso wenig diskutiert wie die damit verbundenen Implikationen für die Strategie des ANC. Der Machtanspruch des ANC steht im Widerspruch zur Annahme einer friedlichen Lösung, da ein friedlicher Übergang eine Teilung der Macht nicht nur mit den verschiedenen Fraktionen der Weißen, sondern auch mit moderaten Schwarzen und Farbigen voraussetzen würde. Statt einer Machtteilung war die Prämisse der diskutierenden Anti–Apartheid–Aktivisten und Sozialwissenschaftler aus Südafrika, dem südlichen Afrika und einigen europäischen Ländern ein Machtwechsel, der die jetzige Opposition vor ungeheure Probleme stellen würde. Die Frage, welche Art von Sozialismus angestrebt werden soll, blieb angesichts der wesentlich konkreteren Probleme, wie etwa eine zu erwartende Kapitalflucht zu verhindern sei, ebenso ungelöst, wie das Problem, ob die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien sinnvoll sei. In diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle des inzwischen zu einem beachtlichen Teil in den USA, in Kanada, Westeuropa und im südlichen Afrika engagierten südafrikanischen Kapitals für den Aufbau der Post–Apartheid–Ökonomie diskutiert. Verhältnis zu den Frontstaaten Großen Raum in der Diskussion nahm auch das Verhältnis des befreiten Südafrikas zu seinen Nachbarn ein. Auch nach einem Machtwechsel wäre Südafrika ökonomisch und militärisch die tonangebende Macht im südlichen Afrika, deren Politik sich auf das Machtgefüge des ganzen Kontinents auswirken würde. Welche Auswirkungen hätte ein Machtwechsel beispielsweise auf den Versuch der Frontstaaten, mit Hilfe der Wirtschaftsgemeinschaft SADCC zu mehr Autonomie zu gelangen. Wie sollte man sich verhalten, wenn zum Beispiel Zimbabwe das im Lande engagierte südafrikanische Kapital nationalisiert. Am konkretesten wurde das Problem der Wanderarbeiter diskutiert. Welchen Status würden die mehr als 260.000 zur Zeit in Südafrika arbeitenden Mosambikaner, Zimbabwer oder Botswaner erhalten? Könnte die Zuzugskontrolle aufgegeben werden? Das gleiche Problem stellt sich mit den Bewohnern der „Homelands“. Eine Aufhebung der Umzugsbeschränkungen wäre nach einem Machtwechsel unumgänglich. Gleichzeitig jedoch würden die Städte und die eh schon angeschlagene Industrie vom plötzlichen Ansturm überwältigt. Auch eine verstärkte Industrialisierung der „Homelands“ nach der Befreiung würde das Problem kurzfristig nicht lösen. Wie sähe überhaupt eine südafrikanische Wirtschaft aus, die nicht mehr wie bisher auf billigen Arbeitskräften basiert, sondern vernünftige Löhe zahlt? Welche Auswirkungen hätte die dann steigende Nachfrage nach Konsumgütern auf die Wirtschaftsstruktur. Das Verhältnis Arbeiter– Wirtschaft nahm einen breiten Raum in der Diskussion ein. Die Fragen Mitbestimmung oder Arbeiterselbstverwaltung wurde ebenso erörtert wie das Problem, ob die Gewerkschaften die Interessensvertretung der Arbeiter übernehmen sollten, was die Einführung der Pflichtmitgliedschaft nach sich zöge, da zur Zeit nur etwa zehn Prozent der Arbeiter gewerkschaflich organisiert sind. Und was soll man mit den weißen Arbeiteraristokratien machen? Gegen Rassismus und Sexismus Produktive Kritik und Widerspruch brachten vor allem die Frauen in die sehr akademisch– diszipliniert ablaufenden Diskussionen ein. Dem orthodoxen, auf Zentralisierung abzielenden Vorschlag der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien wurde eine dezentrale, auf Selbsthilfe basierende Organsisationsform gegenübergestellt. Das traditionelle Konzept der Arbeiterklasse sei unzureichend. Erst mal müßte die Frage beantwortet werden, wer die arbeitenden Klassen eigentlich seien. Gerade die in die Homelands verbannte Arbeit der Frauen zur Reproduktion der Wanderarbeiter fiele bei einer solchen Betrachtungsweise unter den Tisch. Sexismus wurde dem Rassismus als zu bekämpfendes Übel gleichgestellt. Basisiniativen sollten verstärkt an dem gesellschaftlichen Entscheidungsprozeß beteiligt werden. Die Liste der nach einem Machtwechsel zu lösenden Probleme ist überwältigend: sei es die Reform der Landbesitzstrukturen, des Steuer– und allgemeinen Rechtssystems oder des Schul– und Gesundheitsystems. Trotz der großen Widerstände hält die Anti–Apartheidbewegung diese Diskussionen jedoch für wichtig, nicht nur, um für die Zeit danach gewappnet zu sein, sondern auch um die weiße Kritik zu entkräften, ein Machtwechsel würde Südafrika ins Chaos stürzen. Michael Fischer