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Auftakt für eine neue Arbeitszeitrunde

■ IG Metall und Arbeitgeberverband Gesamtmetall beginnen in fünf Bezirken Verhandlungen über die 35–Stunden–Woche Führungswechsel in beiden Organisationen sorgt für Unsicherheit / Arbeitgeber legen umfangreichen Flexibilisierungskatalog vor

Von Martin Kempe

Berlin (taz) - Noch verharren die Kontrahenten in den Startlöchern. Industriegewerkschaft Metall und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall benutzten gestern die ersten Verhandlungstermine für die neue Arbeitszeitrunde in fünf Tarifbezirken, erste Polemiken auszutauschen und die gegensätzlichen Positionen abzustecken: Die IG Metall fordert die 35–Stunden–Woche als Mittel gegen die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die Metallarbeitgeber halten mit ihrer Forderung nach Flexibilisierung der Arbeitszeiten dagegen. Insofern sind die Ausgangspositionen bei der jetzt anstehenden Arbeitszeitrunde ähnlich wie 1984, als die IG Metall in einem siebenwöchigen Arbeitskampf das 40–Stunden–Tabu der Arbeitgeber gebrochen hat. Aber während seinerzeit die Kontrahenten schon recht frühzeitig auf die Kraftprobe eines Arbeitskampfes zusteuerten, vermag derzeit niemand halbwegs gesicherte Prognosen über Verlauf und Ergebnis der anstehenden Arbeitszeitrunde zu äußern. Die gegenseitigen Tabus erscheinen weniger festgezurrt, der Führungswechsel in beiden Organisationen sorgt für eine gewisse Unsicherheit in beiden Lagern, der Ausgang der Bundestagswahl im Januar 87 fließt in das Kalkül der Kontrahenten als Unsicherheitsfaktor ein. Ein frühzeitiger Kompromiß erscheint ebenso möglich wie ein neuerli cher Arbeitskampf. 1984 hatten die Arbeitgeber ihr „Flexi“–Konzept nur in Ansätzen durchgesetzt: Erstens sollte die neue Normarbeitszeit von 38,5 Stunden nicht für jede Woche verbindlich sein, sondern lediglich im Durchschnitt von zwei Monaten erreicht werden. Zweitens sollte sie nicht verbindlich für alle Gruppen in der Belegschaft gelten, sondern in ei ner Schwankungsbreite zwischen 37 und 40 Stunden im betrieblichen Durchschnitt. Insgesamt verbuchte die Gewerkschaft trotz dieser Zugeständnisse als Erfolg, daß sie ein Jahr nach der politischen Wende unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit ihre Aktionsfähigkeit unter Beweis gestellt und das Arbeitszeittabu der Arbeitgeber geknackt hatte. Auch heute wollen die Arbeitgeber von zusätzlicher Arbeitszeitverkürzung nichts wissen. Sie sei, meinte der stellvertretende Gesamtmetall–Vorsitzende Hans–Peter Stihl, aus volkswirtschaftlichen Gründen „in jedem Maße unvertretbar“. Stattdessen legten die Arbeitgeber in der letzten Woche einen umfangreichen Flexibilisierungskatalog vor, der darauf hinausläuft, die Arbeitszeiten den schwankenden Produktionsnotwendigkeiten vollständig zu unterwerfen. Eine Begrenzung der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit würde es dabei ebensowenig geben wie das obligatorische Wochenende. Was die Unternehmer derzeit in Form von Überstunden teuer bezahlen müssen, würde von der unbegrenzten Flexiblisierung geschluckt. Unterschiedliche Normarbeitszeiten für verschiedene Belegschaftsgruppen wären ebenso die Regel wie nahezu unbegrenzte saisonale Schwankungen. Die noch geltende Ausgleichsfrist von zwei Monaten würde aufgehoben. Weil es den Unternehmern 1984 durchaus gelungen ist, mit ihrer Flexibilisierungskampagne demagogisch an vorhandene Arbeitnehmerwünsche anzuknüpfen, will die IG Metall sich diesmal (8–Stunden–Tag, 40–Stunden– Woche als Höchstgrenzen) auf Flexibilisierung einlassen. Wie ernst es der gewerkschaftlichen Basis gerade mit dieser Errungenschaft früherer gewerkschaftlicher Kämpfe ist, bekam am letzten Donnerstag auf einer Kundgebung in Frankfurt zuerst ein Gewerkschafter zu spüren: der IG– Chemie–Tarifpolitiker Horst Mettke. Er hatte den freien Sonnabend zur Disposition gestellt und mußte unter dem Pfeifkonzert der Kundgebungsteilnehmer seine Rede abbrechen.

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