Grauer Wolf „als Opfer fast ein Märtyrer“?

■ Prozeß gegen türkische Antifaschisten um Auseinandersetzung mit „Grauen Wölfen“ / Landgericht revidiert Urteil / Aus Anklage wegen versuchten Totschlags wird gefährliche Körperverletzung / Haftentlassung für die Angeklagten

Aus München Luitgard Koch

„Die Kommunisten lügen doch“, schreit der 26jährige Türke Kudret K., Mitglied der „Grauen Wölfe“ dem Richter bei seiner Zeugenvernehmung entgegen. Auf der Anklagebank im Gerichtssaal des Münchner Landgericht sitzen der 24jährige Birol A., neben ihm Yüksel S. (23). Er bekennt sich zur Befreiungsorganisation Nordkurdistans. Im November vergangenen Jahres wurde Birol wegen versuchten Totschlags zu acht Jahren und Yüksel wegen psychischer Beihilfe und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu vier Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Für das Gericht stand damals fest: Birol A. hat beim Flugblattverteilen am späten Abend des 11. Januar 85 vor den Toren des Münchner BMW–Werks „mit bedingtem Tötungsvorsatz“ fünfmal auf das Mitglied der „Grauen Wölfe“, den 26jährigen Kudret K. eingestochen. Der neben ihm ste hende Yüksel habe Birol dabei mit dem Zuruf „Stich doch zu“ angefeuert. Die beiden türkischen Antifaschisten bestritten die Tat. Im Sommer dieses Jahres hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf. Begründung: Birol habe den Tod Kudrets nicht „billigend in Kauf genommen“, da die Tat im Beisein der Polizei geschah und somit eine rasche ärztliche Versorgung des Verletzten gewährleistet war. Vor vier Wochen begann in München die Neuauflage des Prozesses. „Alle fünf Messerstiche waren Bagatellverletzungen und zu keinem Zeitpunkt lebensgefährlich“. Mit dieser Feststellung Prof. Liebhardts vom Institut für Rechtsmedizin kommt es zur entscheidenden Wende in dem Wiederaufnahmeverfahren. Da auch der Arzt des Schwabinger Krankenhauses, Dr. Sendele, er hat Kudret K. behandelt, dies bestätigt, ist der Vorwurf der versuchten Totschlags nun nicht mehr aufrechtzuhalten. Übrig bleibt: gefährliche Körperverletzung. Hauptbelastungszeuge und Ne benkläger ist nach wie vor das „Opfer“ Kudret K. Birol auf ihn eingestochen habe, sei er mit den Worten „Mach doch fertig“ auf ihn zugegangen und habe mit dem Kopf nach ihm gestoßen, bestätigt er vor Gericht nochmals seine frühere Aussage. Richter Aschauer ist verblüfft. „Das ist doch völlig unverständlich. Ein Opfer, das vom Täter verletzt worden ist, geht auf ihn zu und sagt mach weiter?“ fragt er ungläubig. „Ich hab doch keine Angst vor dreieinhalb Kommunisten, brüstet sich der kräftig gebaute Lagerist. Unverständlich bleibt jedoch vieles bei Kudrets Aussage. Erst im herbeigerufenen Notarztwagen spricht er erstmals davon, daß Yüksel den Täter kenne. Eine Personenbeschreibung des Täters, den er ja nach seinen späteren Aussagen eindeutig vor sich gesehen hat, macht er nicht. Daß Yüksel den Messerstecher auch noch angefeuert haben soll, gibt Kudret erst Tage später bei seiner zweiten Vernehmung durch den Kriminalkommissar Eberhard Reutter (54) im Krankenhaus zu Protokoll. Aber weder seine „Gesinnungsfreunde“, die als Zeugen vor Gericht erscheinen, noch einer der am Tatort anwesenden Beamten kann sich daran erinnern. Auch über den genauen Ablauf der Auseinandersetzung kann keiner der Zeugen Auskunft geben. Von der Verteidigung werden erneut, wie im ersten Verfahren, die fragwürdigen Ermittlungsmethoden des Polizeibeamten Reutter kritisiert. Ohne vorher eine Täterbeschreibung zu haben, legt er Kudret im Krankenhaus Fotos von „linken Türken“ vor. Und bei der ersten Verhandlung behauptet Reutter, er habe sein handschriftlich verfaßtes Vernehmungsprotokoll im Reißwolf vernichtet. Nur die Abschrift mit Schreibmaschine lag dem Gericht vor. Nachdem die Verteidigung ihn wegen Urkundenunterdrückung anzeigt, taucht es jedoch plötzlich wieder auf. Yüksels Bruder gesteht er angetrunken: „Ich weiß, daß Yüksel unschuldig ist“. Sein Angebot: geringere Strafe für Yüksel, wenn dieser einen weiteren Türken durch seine Aussage belaste. Ungeklärt bleibt auch in diesem Verfahren, wer die Polizei, sie war bereits vor der Auseinandersetzung am Tatort, informierte. Reutter macht in diesem Fall von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. „Das ist einfach ein blinder Fleck in der Beweisaufnahme gewesen“, so Rechtsanwalt Wächtler in seinem Plädoyer. Für den Staatsanwalt blieb Kudret K. jedoch der „glaubwürdige Zeuge“. „Als Opfer ist er in gewissem Sinne ein Märtyrer“, betonte er in seinem Plädoyer. Das Urteil des Münchener Gerichts: Birol wird zu zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt, Yüksel S. zu zwei Jahren und vier Monaten. Richter als auch Staatsanwalt lehnen zunächts eine Haftentlassung mit der Begründung einer möglichen Revision ab. Erst auf Intervention ihrer beiden Verteidiger, Hartmut Wächtler und Michael Reiß, wird die Haftfortdauer aufgehoben. Birol und Yüksel wurden gestern aus der Haft entlassen.