Zwischen Enteignung und „Sozialer Erosion“

Karlsruhe(taz) - „Herr Jaeger, vielleicht klärt es sich hier, daß das die krummste Sache bisher in Baden–Württemberg war.“ Der Bundschuh–Bauer Hermann Hofmann ist gewaltig sauer und macht auch in den Hallen des Bundesverfassungsgerichts(BVerfG) in Karlsruhe keinen Hehl daraus. Und der Regierungsdirektor Jaeger vom Regierungspräsidium Stuttgart im feinen Anzug sieht sich plötzlich umringt und beschimpft durch die im „Bundschuh“ organisierten Bauern aus Boxberg, Windischbuch, Schillingstadt und Schwabhausen, über deren Enteignung zugunsten des Rüstungsmultis Daimler–Benz gestern das BVerfG verhandelte. Musterverfahren gegen Enteignung Insgesamt 15 Landwirte haben in einem Musterverfahren das höchste deutsche Gericht angerufen, um den drohenden Verlust ihres Grundbesitzes noch zu verhindern. Weitere 140 Bauern warten mit Spannung auf den Ausgang des Verfahrens, denn auch sie sollen ihr Land zugunsten von Daimler abgeben. Als Entschädigung wurden ihnen Ersatzgrundstücke zugewiesen, die sie jedoch ablehnen. Seit 1977 plant der Rüstungskonzern Daimler–Benz, der sich in Baden–Württemberg so nahezu alles erlauben darf, seine Teststrecke in Boxberg/Assamstadt. Seit dieser Zeit kämpfen die Bauern gegen die Landnahme zugunsten des auf 614 Hektar großen Teststreckengeländes. Doch zu der Allianz von Daimler und Landesregierung gesellten sich jahrelang auch die verschiedenen Verwaltungsgerichte und ließen die Kläger abblitzen. Erst jüngst, als feststand, daß das BVerfG die Verfassungsbeschwerden der Bundschuh–Bauern annahm, kippte die Tendenz in der Rechtsprechung. Der Verwaltungsgerichtshof Baden–Württemberg in Mannheim kassierte plötzlich entgegen seiner bisherigen Entscheidungspraxis in Sachen Boxberg wichtige Verwaltungsanordnungen wie bespielsweise die vorläufige Besitzeinweisung von Daimler–Benz in die Grundstücke der klagenden Bauern. Vor zwei Wochen ließ der VGH nicht einmal mehr die Verlegung der Bundesstraße 292 zu. Ihre Neutrassierung soll vor allem als Zufahrt für die umstrittene Teststrecke dienen. Regierung im Hintergrund Der Kampf um das Boxberg– Gelände warf in Karlruhe schon vor der mündlichen Verhandlung einen Schatten. Der Senatsvorsitzende Roman Herzog lehnte sich wegen Befangenheit ab. Begründung: Er hatte als CDU–Minister an mehreren Kabinettsbeschlüssen zugunsten von Daimler–Benz im Zusammenhang mit der Teststrecke mitgewirkt. Erst durch Herzogs durchaus zu begrüßenden Schritt wurde auch zum ersten Mal bekannt, daß der Rüstungskonzern sich bei der Regierung Späth gut abgesichert hatte. Wenn die verfassungsrechtlichen Stricke reißen, so das Kabinett, werde eben das Land das von dem Unternehmen bislang erworbene Gelände für 25 Mio. DM kaufen. Anstelle von Roman Herzog leitete gestern Helmut Simon die Verhandlung und als Ersatzrichter hatte man per Los Ernst–Gottfried Mahrenholtz(SPD) ermittelt. Bei Simons Fragen an den baden–württembergischen Minister für Landwirtschaft, Forsten und Umwelt, Gerhard Weiser, wo denn bei dem gesamten Verfahren über die Flurbereinigung die rechtlichen Voraussetzungen wie die Frage der Verhältnismäßigkeit bei einer Enteignung geklärt worden seien, mußte dieser passen. Auch der für die Landesregierung beauftragte Prof. Rüdiger Breuer räumte ein, daß der „Verfahrensgang verzwickt“ sei. Weiser wußte allerdings die politische Bedeutung des Projekts hervorzuheben. Die Teststrecke nicht zu bauen, sei ein „politisch nicht entschuldbares Versäumnis“. Sein Schreckenszenario für den Fall, daß man das Vorhaben nicht realisieren könne, gipfelte in der Vision von „sozialer Erosion“ und der „Verödung der Gemeinden“ im Main–Tauber–Kreis, der ohnehin schon mit 6,2 Prozent Arbeitslosigkeit 15 auch zu erkennen, was die Landesregierung bei ihrem Engagement für das Wohl des Rüstungskonzerns noch bewegt. Schließlich gäbe es allein um Stuttgart rund 80.000 Beschäftigte bei Daimler– Benz und die Teststrecke sei eben „langfristig auch für andere Arbeitsplätze von Bedeutung“. Beobachter vermuten dahinter auch möglicherweise einen Zusammenhang zwischen Boxberg und dem geplanten neuen Daimler - Automobilwerk in Rastatt, für das sich die Landesregierung derzeit mit Millionenbeträgen bei dem Rüstungsmulti stark macht. Vorgaben von Daimler–Benz Der Berichterstatter des Verfassungsgerichts Johann–Friedrich Henschel bemerkte nach Weisers Vortrag, daß man nach wie vor nicht wisse, auf welcher gesetzlichen Grundlage denn eine Enteignung der Bundschuhbauern erfolgen solle. Ihm schien es, als habe „Daimler–Benz die Vorgaben gegeben“, so daß der „gute Stern auch weiter auf den Straßen blitzt“, meinte Henschel. Aber wo und wann, bitte, sei denn über die Verhältnismäßigkeit und die Erforderlichkeit der Maßnahme gesprochen worden, fragten gleich drei verfassungsrichter. Für den Freiburger Rechtsanwalt der Kläger, Siegfried de Witt, geht es gerade auch um diese Fragen. So sei zu keinem Zeitpunkt die Verhältnismäßigkeit einer Enteignung verfassungsrechtlich geprüft worden. Eine Enteignung in Rahmen einer sogenannten Unternehmensflurbereinigung lasse das Grundgesetz nicht zu. Schließlich profitiere von der Flurbereinigung lediglich der Stuttgarter Konzern und nicht etwa die Allgemeinheit. Auch die Behauptung, durch das Projekt würden in der Region Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen, reicht nach de Witt für eine Enteignung nicht aus. Es gäbe schließlich auch andere Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu sichern. Die „kalte Sozialisierung“ ist für die betroffenen Bauern nicht akzeptabel, da das Profitstreben des Unternehmens nicht als „dem Allgemeinwohl dienend“ zu klassifizieren sei. Auch strukturverbesserungen dürften nur mit marktkonformen Mitteln angestrebt werden und zudem würden ohnehin auf der Teststrecke nur rund 100 Arbeitsplätze geschaffen. Das BVerfG wird voraussichtlich in drei Monaten sein Urteil bekanntgeben. Felix Kurz