Hippokratischer Eid unbekannt

■ Beim Frankfurter Euthanasieprozeß weisen die wegen Mordes an Patienten Angeklagten jede Verantwortung von sich / Rechtfertigung: Als Mediziner „überfordert gewesen“

Berlin (taz) - Mit den episch breit ausgemalten Bildungserlebnissen eines Studenten in der NS–Zeit gelingt es dem Angeklagten im Frankfurter Euthanasie–Prozeß den 72jährigen Dr. Aquilin Ullrich, immer mehr, die 22. Strafkammer zu beeindrucken: katholisches Milieu, evangelische Braut, „Sieger“ im „Reichsberufswettkampf“, Händedruck mit Hitler und Bild im „Völkischen Beobachter“, mit anschließender Verlobung. Da Ullrich nach dem Bruch mit der katholischen Kirche unter dem „Fehlen von Sicherheitsstrukturen“ litt, war er endlich von den „strahlenden blauen Augen“ des Führers und dessen „hohem Kulturbewußtsein“ über zeugt. Deutlich vermittelt Ullrich die Strategie seines Erinnerungsvermögens: den „Führerbesuch“ habe er sich bewußt in allen Einzelheiten eingeprägt. Aber nur beiläufig in diesem Bildungsroman wird erwähnt, daß er während des Polenfeldzuges auch zur „Seuchenbekämpfung in Lublin“ eingesetzt war. Vor allem aber betonen Ullrich und sein mitangeklagter Studienfreund, Heinrich Bunke, daß sie als Ärzte überfordert gewesen seien. Ulrich: Die Notapprobation „war eine Farce“, die Kenntnisse hätten allenfalls für einen „gehobenen Sanitäter“ ausgereicht. Auch Bunke äußert sich in diesem Sinne und erwähnt noch, er hätte vom hippokratischen Eid erst nach dem Kriege erfahren. Beide Mediziner, angeklagt wegen gemeinschaftlichen Mordes an Patienten im Rahmen der „Aktion T4“, haben sich schon früher mit dem Hinweis auf die unzureichende medizinische Ausbildung gerechtfertigt. Mit den detaillierten Erzählungen des bürgerlich–idealistischen Bildungsganges brauchten beide Angeklagte allein vier Verhandlungstage bis zu Beginn des entscheidenden Jahres 1940. Mit bewußter Dramatik beschloß Bunke seine Aussage in diesem Jahr: „Eines Tages kam für mich überraschend ein Brief aus der Kanzlei des Führers“. Fortsetzung am 5. Januar. KH