„Die Alten sollen gehen!“

Die Geschichte könnte aus dem China der Reform stammen, doch sie wird aus Vietnam berichtet. 1982 begann man in der Long An Provinz, vor den Toren von Ho Chi Minh Stadt, des früheren Saigon, mit neuen Fromen des Mangements zu experimentieren. In einigen Staatsformen wurde die Rationierung für Lebensmittel abgeschafft, die Arbeiter erhielten ihre Löhne nur noch in „cash“. Darüber hinaus wurde erhöhte Produktivität auch materiell belohnt, und den Betriebsleiter eigene Entscheidungen bei der Preisgestaltung zugesichert. Als sich der Versuch zu rentieren begann, witterten die alten Parteiideologen aus Hanoi „revisionistische Winde“. Die Manager wurden mit Gefängnis bedroht, falls sie ihre Experimente nicht einstellen. „Wenn hier jemand ins Gefängnis geht, bin ich es,“ soll sich daraufhin der früherer Parteichef von Saigon, Nguyen Van Linh, zu Wort gemeldet hagen. „Ihr macht weiter,“ forderte das 73jährige Politbüromitglied die Manager auf. Kampf zweier Linien Zwar liegt diese Episode schon zwei Jahre zurück, doch sie illustriert recht bildhaft, die Verhältnisses in der vietnamesischen KP zwischen dem fünften Parteitag im Jahre 1982 und dem sechsten, der gestern in Hanoi zuende ging. Nach Ansicht von ausländischen Beobachtern ist in dem Land Indochinas ein heftiger Kampf zweier Linien in Gang gewesen. Fast zwölf Monate hat die KPV den jetzigen Parteitag immer wieder verschoben, bis sich die Fraktionen der „Ideologen“ und „Reformer“ auf die neue Marschrichtung des Landes festlegen konnten, das sich seit nunmehr 31 Jahren im Kriegszustand befindet. Dafür war der Parteitag dann aber auch der spektakulärste in der 56jährigen Geschichte der moskautreuen KP. In einem noch nie dagewesenen Maße hagelte es gleich zur Eröffnung am Montag herbe Selbstkritik. Nguyen Van Linh, der symbolträchtig als erster das Wort ergriff, forderte zu einer „Erneuerung der Partei in Gedanken, Arbeitsstil, Organisation und Kadern“ auf. Im Anschluß daran räumte der bisherige Generalsekretär Truong Chinh ein, daß die Partei ihre gesteckten Ziele in den letzten vier Jahren wirtschaftlich nicht erreicht habe und gestand schwerwiegende Fehler in der Vergangenheit ein. Konsequenter Rücktritt der „Alten Garde“ Folgerichtig war es denn auch, daß am Mittwoch die drei führenden Männer des Staates dem 1.129 köpfigen Parteitag ihren Rücktritt mitteilten. Neben dem 79jährigen Chinh, werden Ministerpräsident Pahm Van Dong (80), der seit 1955 sein Amt inne hatte, und der Parteiideologe Le Duc Tho, in Zukunft weder dem Politbüro noch dem Zentralkomitee angehören. Le Duc Tho, ist wie Ching und Dong der Gruppe der starren moskautreuen Ideologen in der KP zuzurechnen, die wie in keiner anderen KP der Welt, die Zügel über ein halbes Jahrhundert fest in ihren Händen gehalten hatten. Sie kennen sich oft noch aus gemeinsamen Gefängnis–Aufenthalten und den Tagen des Widerstandes gegen die einstige französischen Kolonialmacht. Die alte Garde der Kader aus der ersten „Staffel“ um Chinh hatten in den vergangenen Jahren immer wieder als Bremsklotz gewirkt, wenn es um die Umgestaltung der starren Plan–Wirtschaft und Parteistruktur des Landes ging. Dabei wäre das bitter notwendig. In dem Land, das seit 1945 erst gegen den Kolonialherrn Frankreich, später gegen den Invasor USA und dann gegen die Nachbarländer China und Kambodscha Krieg führt, ist es noch immer nicht gelungen, von einer Kriegs– auf eine Friedensökonomie umzuschalten. Mit 1,1 Millionen Mann unter Waffen, stellt Vietnam noch immer die drittgrößte Armee der Welt. Bis zu 15 Divisionen (150.000 Soldaten) stehen an der Grenze zu China, und 140.000 Mann sind im Nachbarland Kambodscha stationiert. Vietnam, das im Jahre 1979 anläßlich des Einmarsches in Kambodscha und der darauffolgenden „Strafaktion“ aus China, fast vor dem Staatsbankrott stand, kann das nicht alleine finanzieren. Jährlich wird der Gegenwert von einer Milliarde US–Dollar aus Moskau zugeschossen. Inflation von 350 Prozent durch verfehlte Reformen Initiativen zur Sanierung der maroden Finanzen und Attacken gegen die verstaubten Dogmen Hanois kamen deshalb in den letzten Jahren stets aus dem einstigen kapitalistischen Süden. Der Bürgermeister von Ho Chi Minh Stadt, Mai Chi Tho, hatte etwa schon 1981 zur Gründung von selbständigen Handelsfirmen in der Metropole aufgerufen. Das Ergebnis war eine deutlich bessere Versorgung der Bevölkerung und in der Folge ein vietnamesisches Nord–Süd–Gefälle. Aber 1983 ließ Hanoi die „Anarchie“ wieder stoppen. Dennoch hat die nunmehr einzige staatliche Exportfirma des früheren Saigons 1985 ein Plus von 100 Millionen US–Dollar eingefahren. Als derartige wirtschaftliche Experimente allerdings dann im Juli 1985 im ganzen Land umgesetzt werden sollten, schlugen sie angesichts der noch immer verknöcherten Verwaltung im Norden in das Gegenteil um. Zwar waren plötzlich auch im Norden mehr Lebensmittel zu kaufen, die Bauern und Arbeiter hofften auf ein Ende des 30–jährigen Schlangestehens, doch in einer nie dagewesenen Weise schossen Löhne und Preise in die Höhe. Eine mißlungene Entwertung des lokalen „Dong“ führte schließlich zum Jahresende zu einer Infaltion von 350 Prozent. Hätte das in anderen Ländern Asiens sicherlich zu heftigen Demonstrationen geführt, so entschloß sich das Parteiorgan „Nhan Dan“ in der Folge zu einem äußerst ungewöhnlichen Schritt. Die Redakteure des Blattes warfen der Parteiführung vor, sie hätten das Land mit der falschen Reform in ein erhebliches Chaos versetzt und bezichtigten sie der „schlechten Führung“. Das einzige Politbüro–Mitglied, das sich daraufhin öffentlich entschudligte, war Nguuyen Van Linh. Daß die Vietnamesen damit nicht zufrieden waren, berichtete das Hongkonger Wirtschaftsmagazin „Far Eastern Economic Review“ bereits im März: „Immer mehr Beamte finden, es ist an der Zeit für die alten Männer zu gehen.“ Nachdem das Schlagwort Verjüngung der KP in den letzten Jahren in Peking und Moskau die Runde gemacht hat, wurde darüber auch im Vorfeld des Parteitages der KPV in Hanoi heftigst diskutiert. Die Kader zwischen 90 und 50 sollen in den nächsten Jahren in führende Positionen auf Provinzebene aufsteigen, die zwischen 35 und 45 Jahren auf Distriktniveau Verantwortung übernehmen. Jürgen Kremb