Ein Jahr nach dem Vulkanausbruch in Kolumbien: Der Schlamm ist getrocknet, das Elend bleibt

■ Über 25.000 Menschen starben, als im November 1985 die Stadt Armero unter Schlamm–Massen versank. Nun wird für die Überlebenden unter dem Vulkan eine neue Stadt aufgebaut. Doch unter den Opfern der Katastrophe hat sich längst Resignation, aber auch Unruhe ausgebreitet

Aus Bogota Ciro Krauthausen

„Armero hat aufgehört zu existieren“, funkte der erste Hubschrauberpilot, der die Katastrophenzone überflog, im Morgengrauen am 14. November des vergangenen Jahres. In der Nacht zuvor hatte eine vom Vulkan Ruiz ausgelöste Schlammlawine die kolumbianische Kleinstadt begraben. An die 25.000 Menschen starben, etwa 20.000 überlebten, viele von ihnen schwer verletzt. Das aufstrebende Städtchen, Zentrum einer Region, die als Getreidekammer dient, war vom Erdboden verschluckt worden. Die zweite Katastrophe Noch in derselben Nacht begann die Rettung der Überlebenden. Spendenaufrufe im Ausland fanden massives Echo, tonnenweise wurden Lebensmittel und Kleidung gesammelt. Die gut eingespielte internationale Katastrophenhilfe kam ins Rollen. In Armero jedoch folgte der ersten Katastrophe eine zweite: die der Hilfsorganisationen. Da gab es keine Koordination, keiner war verantwortlich. Da arbeitete jede Institution für sich, oft mit unerfahrenen Freiwilligen. Da wurden Hilfsgüter gestohlen, noch ehe sie im Katastrophengebiet ankamen. Da verschwand sogar eine komplette Krankenhauseinrichtung, wahrscheinlich in den Beständen des Roten Kreuzes oder der Armee. Da verkündete drei Tage nach der Katastrophe der Gesund heitsminister - viele Überlebende steckten noch im Schlamm - das gesamte Gebiet würde ab sofort desinfiziert, eine Absicht, die dann schleunigst dementiert wurde. Da war aber auch die Presse mit einer oft skrupellosen Berichterstattung. Aus Sterbenden wurden Interviews herausgepreßt, Menschen, die gerade alles verloren hatten, um ein Statement gebeten. Omayra Sanchez, das zwölfjährige Mädchen, das im Schlamm verreckte, flimmerte weltweit über die Bildschirme. Der ersten Welt wurde so der Griff nach dem Geldbeutel erleichtert. Millionen flossen. Ende November gründete die kolumbianische Regierung eine zentrale Stelle für die Koordination des Wiederaufbaus, genannt „Resurgir“ (Wiederauferstehen). Leiter wurde Pedro Gomez, ein bekannter Bauunternehmer. Für ihn war es sicherlich nicht unattraktiv, ein neues Armero zu bauen. Resurgir war gegründet worden, um dem wachsenden Chaos der verschiedenen Hilfsorganisationen Einhalt zu bieten. Fortan mußte jeder, der ein Hilfsprojekt gründen oder unterstützen wollte, mit Resurgir zusammenarbeiten. Das hatte zur Folge, daß ein noch größeres Chaos entstand. Denn nun mußten alle, auch die internationalen Organisationen, gegen die kolumbianische Bürokratie ankämpfen. Jede schnelle und effiziente Hilfe war somit unterbunden. Lerida - das „neue Armero“ Ab Februar 1986 begann dann endlich der Wiederaufbau. Nicht am selben Ort, sondern mit einem Dutzend neuer Siedlungen. Zentrales Projekt war eine „Regionalstadt“, in der der größte Teil der neuen Siedlungen Platz finden sollte. Über dem Neuentstandenen schwebt weiterhin die Gefahr eines neuen Vulkanausbruches. Zwar wurden eiligst Studien verfaßt, internationale Wissenschaftler zu Hilfe gerufen und Alarmsy steme installiert. Konkret aber tat sich wenig, die Bevölkerung der weitläufigen Zone wurde kaum über die Gefahr aufgeklärt, die Alarmsysteme funktionieren bis heute nicht. Die Möglichkeit einer neuen Katastrophe, wiederum durch verantwortungslose Politiker mitverschuldet, besteht weiterhin. Und so weihte dann Belisario Betancur, der damalige Präsident, das „neue Armero“ unter dem Protest der Katastrophenopfer ein. Lerida, wie das „neue Armero“ heißt, im November 1986: ein verschlafenes Nest, in der tropischen Hitze vor sich hinbratend. Außerhalb des alten Stadtkerns riesige Zeltlager, in denen etwa 1.200 Familien leben. Überall Schmutz und Abfälle, die von niemandem weggeräumt werden. Die hygienischen Verhältnisse sind denkbar schlecht, von Parasiten aufgeblähte Kinderbäuche bezeugen es. „Oft gibt es kein Wasser. Wir sind von dem Wasserwagen abhängig, unsere Kleidung waschen wir in dem dreckigen Bach. Wenn es regnet, wird alles feucht, die Zelte, der Boden, unsere Sachen. Alles wird zu einer einzigen Schlammpfütze, es wimmelt darin nur so von Bakterien“, erzählt eine vielleicht dreißigjährige Frau, umringt von ihren fünf Kindern. Ein Jahr lebe er nun schon hier, seit dem Anfang sei er dabeigewesen, meint ein Mann. „Uns hat man hier vergessen. Wir hungern. Ich frage mich, was mit all dem Geld, das aus dem Ausland kam, passiert ist. Geklaut worden ist es. Sie hätten es uns lieber bar in die Hand legen sollen“. Inzwischen kommen kaum noch Spenden mit Lebensmitteln, Kleidung oder Haushaltsutensilien an. Bettlermentalität Bis zum August zahlte Resurgir jedem Katastrophenopfer monatlich 4.500 Pesos (umgerechnet 50 DM). Bei einer fünfköpfigen Familie machte diese Summe insgesamt schon mehr als den landesüblichen Mindestlohn aus. Die mei sten kämen also für kolumbianische Verhältnisse einigermaßen über die Runden. Miete gab es keine zu bezahlen. Und wenn ein Familienmitglied auch noch arbeitete, so entsprach das Einkommen demjenigen eines kleinen Angestellten. Viele der „Damnificados“, wie man die Katastrophenopfer nennt, haben eine gewisse Bettlermentalität angenommen: Alles muß ih nen gegeben werden, im Grunde genommen muß ihnen ein neues Armero geschenkt werden. Ob er denn arbeite, frage ich einen jüngeren Mann. „Arbeiten, das lohnt doch nicht. Ich arbeite nicht für 600 Pesos am Tag, wovon soll ich denn bei dem Gehalt leben?“ Doch in ganz Kolumbien verdient kein Tagelöhner mehr. Nur, daß der normale Arbeiter keine Spenden fordern kann. Diejenigen, die bis heute in den Zelten leben, rekrutieren sich hauptsächlich aus der Unterschicht, aus der Masse der Landarbeiter, die vor der Katastrophe wochenweise auf Landgütern angeheuert wurden und ihr Leben lang nur Tagelöhner gewesen sind. Viele haben mehr Geld empfangen, als sie je zuvor in Händen hatten. Ist die Bettlermentalität dann nicht verständlich? Aber man darf nicht verallgemeinern. Viele arbeiten hart, um sich ein neues Leben aufzubauen, und finden es erniedrigend, Spenden annehmen zu müssen. So etwa jene Frau, die mit ausländischer Hilfe einen Frisiersalon eröffnete und die sich und ihre Familie nun selbst durchbringt. Oder jener alte Fischer, der täglich eine Stunde weit zu einem Wohnungsbauprojekt fährt. Das Gelände wird von Resurgir gestellt, den Plänen nach mit Strom– und Wasserversorgung, private Hilfsorganisationen und Baufirmen organisieren den Bau. Bisher sieht man allerdings wenig Erfolge. „Viele Institutionen, die sich verpflichtet hatten zu bauen, sind bisher noch nicht in Erscheinung getreten“, erklärt der jetzige Leiter von Resurgir. Nimmt man die Ineffizienz von Resurgir selbst hinzu, dann wird verständlich, weshalb bisher im gesamten Katastrophengebiet erst wenig mehr als 500 Wohneinheiten fertiggestellt sind. Erforderlich sind aber mindestens 4.000. Seit Resurgir die Katastrophenopfer nicht mehr regelmäßig mit Bargeld unterstützt, ist ein Wandel eingetreten. Es muß gearbeitet werden. Nur, so viele Arbeitsplätze, wie benötigt werden, gibt es nicht. Nach der Katastrophe gingen viele der großen Landgüter bankrott, die Tagelöhner finden in der Landwirtschaft nicht mehr so leicht Arbeit. Industrie gibt es kaum, und die Gefahr eines neuen Vulkanausbruchs blockiert die notwendigen Investitionen. „Während sich alles um die Wohnraumbeschaffung drehte“, meint der Schweizer Entwicklungshelfer Rene, „hat kaum einer an die Beschäftigungsfrage gedacht. Jetzt, wo noch viel gebaut wird, mag noch Arbeit zu finden sein. Aber was ist, wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind?“ Managua, Papayan, Armero In den Häusern, die schon fertiggestellt sind - einige von ihnen miserable, graue und feuchte Schuhkartons, kaum besser als die Zelte - beklagen sich viele der „Damnificados“ über die mangelhafte Strom– und Wasserversorgung. Doch die hat in der ganzen Gegend noch nie funktioniert. So verhält es sich mit den meisten Protesten der Geschädigten. Was sie fordern, ist sicherlich berechtigt: Gesundheitsvorsorge, Schulen, Arbeitsstellen und höhere Löhne. All das hat es aber immer nur ungenügend gegeben. Consuelo, eine Sozialarbeiterin, meint: „Daß die Katastrophenopfer oft nicht bereit sind, für 600 Pesos am Tag zu arbeiten, ist verständlich. Aber die Löhne sind für 97 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung miserabel. Was ist dann der Unterschied zwischen einem Damnificado in seinem Zelt und einem ganz normalen Arbeiter in einer elenden Hütte? Früher oder später muß eine Revolution stattfinden.“ Die Organisation der „Damnificados“ steckt immer noch in den Kinderschuhen. Von den Zeltlagern - insbesondere von denen, die von linken Organisationen betreut werden - gehen zwar hin und wieder Protestaktionen aus, eine Straßensperre etwa oder die Besetzung eines Rathauses. Doch von großer Einigkeit und von Zusammenhalt kann nicht die Rede sein. In dieser Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit entladen sich Alltagsprobleme schnell in handfesten Konflikten. Von Tag zu Tag wächst der Verdruß, die Frustration der vielen, denen es immer schlechter geht. Das Erdbeben in Managua 1972 und der korrupte Umgang Somozas mit den Hilfsgeldern haben die Revolution 1979 in gewisser Weise mit hervorgebracht. 1982 zerstörte ein Erdbeben die alte Stadt Popayan im Süden Kolumbiens. Just in dieser Region herrschen heute bürgerkriegsähnliche Zustände. Staat und Hilfsorganisationen waren unfähig, effiziente Hilfe zu leisten, und erst heute, vier Jahre später, sind die ärgsten Folgen des Erdbebens beseitigt. Gewaltsame Reaktionen sind auch in Armero zu erwarten, wenn nicht schleunigst etwas geschieht. Im Zeltlager „Neue Hoffnung“ sitzt eine ältere Frau und erzählt. Nein, sie sei damals nicht zur symbolischen Besetzung der Häuserruinen von Armero mitgegangen. Erst habe sie ja gewollt, aber dann habe sie die Augen geschlossen und überall Militär, Stoßtrupps und Polizei gesehen. Da sei sie doch lieber zuhause geblieben. Bei Jüngeren ist die Verzweiflung größer als die Angst.