Rückblick auf die Weltwirtschaft 1986: Zauberhaftes Wahlkampfgeschenk für Koaliton

■ Fortgesetzter Witrtschaftsaufschwung im vergangenen Jahr mehr als je zuvor von glücklichen außerwirtschaftlichen Umständen getragen / Prognose für 87: Wachstum perdu, Exportbelastung durch Handelshemmnisse, weniger neue Arbeitsplätze / Eine mögliche Arbeitszeitverkürzung wird zur Schlüsselgröße

Von Ulli Kulke

Berlin (taz) - Mal wieder: Bundesdeutsche Exportrekorde und der Kurs des US–Dollar, diese Oldies unter den wirtschaftspolitischen Schlagworten standen auch im auslaufenden Jahr brandaktuell mit an der Spitze der Chartliste. Dazu kamen diesmal noch als Neueinsteiger: Antizyklische Konjunkturpolitik, Deflation und Ölpreisverfall, alles in allem eine Mixtur, die den Wahlsieg der Koalition am 25. Januar erst so richtig schön machen wird. Eine Mixtur, die aber auch unsere spätkapitalistische Ära wieder ins Lot bringt: Das Konzentrations– und Fusionskarussell dreht sich in nie dageweser Geschwindigkeit. Insgesamt bietet sich also genügend aktueller wirtschaftspolitischer Diskussionsstoff. Niemand muß aus lauter Verlegenheit Dinge in die wirtschaftspolitische Debatte einführen, die oberflächlich besehen außerökonomisch sind, sich bei Lichte betrachtet jedoch als zentrale wirtschaftliche Probleme herausstellen: Tschernobyl und die Rheinverschmutzung. Wie Weihnachten und Ostern zusammen - so präsentiert sich für die Bundesregierung der Jahresbeginn 1987. Preisstabilität und Wachstum, das ist nach Auffassung der Wirtschaftslenker Bangemann und Kohl die Belohnung des Christkindes dafür, daß sie so brav gerungen haben um die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Lande. Der Zeitpunkt für günstige Jahresrückblicke, wie sie nun allerorten verbreitet werden, könnte für unser Duo nicht besser liegen, knallt doch am Sylvesterabend auch der Startschuß für die letzte, heiße Phase des Bundestagswahlkampfes. Die 2,5% Wachstum im auslaufenden Jahr runden dabei die langanhaltende Aufschwungphase der letzten Jahre ab. Da fällt es nicht weiter auf, daß sowohl der Sachverständigenrat als auch die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute sich in ihren Prognosen für 1986 weit nach oben vergriffen hatten (3 bzw. 3,5 sein mag - oder „sich lohnende Leistung“ die Ingredienzen des Wahlkampfmenüs der Koalition sind, sondern zwei ganz andere Dinge, soll dabei verdrängt werden: Der Verfall von Dollarkurs und Ölpreisen setzten die entscheidenden Daten der Kost, die eher wie ein Zaubertrank riecht. Fast Unglaubliches ist passiert im Jahre 86. An die allgemeine Teuerung waren wir inzwischen gewöhnt wie ans tägliche Frühstück. An Preissenkungen konnte sich keiner mehr erinnern. Niemand hätte deshalb vor Jahresfrist darauf gewettet, daß uns das Jahr 1986 eine veritable Deflation bescheren könnte. Allein von Oktober auf November sind die Verbraucherpreise um 0,3 Im Jahresdurchschnitt dürfte die Deflation ein sattes halbes Prozent betragen. Noch ein Novum für die 80er Jahre: Einkommenssteigerungen, die selbst linke Wirtschaftswissenschaftler wie Rudolf Hickel von der Bremer „Memorandum“– Gruppe als „kräftig“ bezeichnen. Zwar sind die 4,5 % Realeinkommenszuwachs nicht allein auf die Preissenkungen zurückzuführen, die Arbeitgeber ließen sich tatsächlich auf höhere Lohnabschlüsse ein. Eine große Rolle spielte dabei aber dennoch, daß man schlicht weniger Geld ausgeben mußte - vor allem für das, was viele immer noch als das Wichtigste der Wirtschaft ansehen: Energie. Ohne den Rückgang der Importpreise für Mineralölprodukte, den der Sachverständigenrat der Bundesregierung auf immerhin 66 Inflationsrate zwischen 2 und 2,5 zwei „Ölschocks“ auch niemand mehr dachte, daß der Spritpreis das Niveau der ersten Hälfte der 70er Jahre wiedererlangen würde, trat ein. Für den bundesdeutschen Verbraucher addiert sich zum Ölpreissturz von 28 auf zeitweilig unter 10 Dollar pro Barrel (159 l) noch der Dollar–Kurssturz (DM– Dollarverhältnisse von 1:3 und ein Ölpreis von 30 Dollar/Barrel bedeuten 90 DM/Barrel, 1:2 und 10 Dollar/Barrel dagegen 20 DM/ Barrel). Der Verfall des Dollarkurses bzw. die Stärkung der DM verbilligte darüberhinaus natürlich alle Importgüter. All dies gehört zu den fremden Federn an den Köpfen Bangemanns und Kohls. Anfang 1985, auf seinem Höchststand der 80er Jahre, musste man noch 3,50 DM für einen US–Dollar bezahlen, zur letzten Jahreswende waren es immer noch 2,50. Inzwischen muß der Dollarkurs kämpfen, die 2,00 DM - Marke halten zu können. Wo auch immer jedoch der Dollarkurs entlangmarschiert, er macht Schlagzeilen. Schlagzeilenhit Dollarkurs 1979/80, zum Ausgang der Carter–Ära, als das US–amerikanische Selbstbewußtsein weltweit ach so gebeutelt war, hatte es kaum ein Halten gegeben für den Dollar. Erst bei 1,75 DM fing er sich wieder. Viele befürchteten seinerzeit einen vollständigen Kollaps, der Goldpreis rangierte in der Gegend knapp unter 1.000 Dollar pro Feinunze (heute knapp unter 400 Dollar). In den Folgejahren erklomm der „Greenback“ ungeahnte Höhen, obwohl alles gegen ihn sprach: zunächst noch relativ hohe Inflation in den USA und gigantische rüstungsbedingte Staatsverschuldung. Lediglich die hohen Zinsen in den USA stützten den spekulativen Kapitalzufluß. Der Leitzins „Prime Rate“ bewegte sich zwischen 15 und 20 Prozent. Allein aus der Bundesrepublik gingen deshalb in manchen Wochen mehrere Milliarden DM als Dollars umgewechselt über den Atlantik, um dort als hochverzinste Kreditgelder die Löcher im Staatshaushalt zu stopfen. Solch umfangreiche Tauschoperationen ließen den Dollarkurs nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage in die Höhe schnellen. Und das Vertrauen in den Erfolg dieses Hazardspiels der USA schien unbegrenzt. Die Rechnung bezahlten indes vor allem die verschuldeten Drittweltstaaten, die den immer teureren Dollar einkaufen mußten, um die immer höheren Zinsen und die Tilgungen ihrer US–Kredite begleichen zu können. Die Quittung für ihren Verschuldungsritt bekamen die USA vor Jahresfrist. Das Land rutschte als einstige Gläubigernation in die Stellung des am meisten verschuldeten Landes der Welt - mit 110 Milliarden Dollar noch vor Brasilien und Mexiko. Darüberhinaus würgten die hohen Zinsen auch noch die Wirtschaftstätigkeit im Lande ab, was zusätzlich noch auf weniger Steuereinnahmen und noch höhere Staatsverschuldung hinauslief. Rettung: Weltweite Inflationierung Man kam um die Erkenntnis nicht mehr herum, daß die Zinsen dringend runter mußten, allerdings ohne gleichzeitig die internationalen Anlegeraus den USA zu vergraulen. Nur ein Ausweg bot sich den USA an, wenn die übrige Welt sich der Senkung der amerikanischen Prime Rate (inzwischen bei 8 Heil kann nur noch in der Inflationierung liegen. Inflation löst nämlich vor allem ein Problem, und das ist die Verschuldung. US–Regierung und US–Zen tralbank brachten daher im vergangenen Jahr Töne ins Weltwirtschaftskonzert, die man seit gut 15 Jahren nicht mehr vernommen hatte. Die Handelspartner, Japan und vor allem die Bundesrepublik, sollten doch bitte schön aktive Konjunkturpolitik betreiben, die Zinsen herunternehmen und mit kreditfinanzierten Programmen ihre Wirtschaft ankurbeln. Dadurch erhoffte man sich nicht nur weltweite Inflationierung, sondern vor allem auch erhöhte US– Exporte in andere Länder mit aufblühender Konjunktur, um ein anderes zentrales Problem Washingtons anzupacken. Das Handelsbilanzdefizit der USA erklomm im ausgehenden Jahr neue Höhen: 170 Milliarden Dollar, wobei der Fehlbetrag im Handel mit Japan, der EG und aufstrebenden Schwellenländern Südostasiens entstand. Die Bundesrepublik widersetzte sich bislang den Hilferufen aus Washington. Man sah zu, wie zwischen den USA und Japan ein Bündnis für die Wiederankurbelung der Konjunktur und größere Währungsstabilität geschlossen wurde. Eine neue „Task Force“ in Sachen Ankurbelung der Weltkonjunktur, die „G 2“, wurde geboren. BRD: Export–Weltmeister Der 1986 niedergehende Dollarkurs, der US–Waren im Ausland konkurrenzfähiger machen und mithin den US–Export eigentlich ankurbeln sollte, vermittelte dabei zunächst ein unschönes Bild für die USA: Die Bundesrepublik hat 1986 die USA in absoluten Zahlen zum ersten Mal als Exportnation überholt. Für 200 Milliarden Dollar exportierten Audi bis Zanker in den ersten neun Monaten des Jahres in alle Welt gegenüber 180 Milliarden der US–Unternehmen. Der Grund ist allerdings ein statistischer: Jede Mark, die im Export verdient wird, zählt jetzt in den Weltstatistiken mit 50 Cent, und nicht mehr mit 30–40 Cent wie noch vor Jahresfrist. Eine andere Begleiterscheinung des Dollarkursverfalls: Ausverkauf der US–Betriebe. Die Japaner kauften preiswert Chip– Fabriken in Silicon Valley, Hoechst kaufte US–Chemieunternehmen, und jetzt kauft auch noch die niederländische Fluggesellschaft KLM die amerikanische Hilton–Kette von jenseits des Atlantik auf. Auf US–Unternehmer muß die Konkurrenz aus Übersee zur Zeit einen Eindruck erwecken, den sie selbst ansonsten als Touristen im Ausland verbreiten: Es wird mit Geld um sich geschmissen. 1987 ist alles anders Letzten Endes ist es das Ziel der US–Wirtschaftspolitiker, daß in ihrem Land die Ausländer mit Geld um sich schmeißen. Der niedergehende Dollarkurs soll sich nach ihren Vorstellungen im kommenden Jahr dahingehend auswirken, daß das Ausland weniger in den USA absetzt. Dafür soll die Welt US–Produkte einkaufen. Eine Latte von Einfuhrbeschränkungen haben die USA zusätzlich eingeleitet, 1987 wird hier eine Verschärfung eintreten: Die Demokraten, Freunde des Protektionismus, haben jetzt in beiden Häusern des US–Parlaments das Sagen. Die bundesdeutschen Wirtschaftsforschunginstitute sehen deshalb bereits jetzt, daß die bundesdeutsche Konjunktur im kommenden Jahr sich nicht mehr auf den Export verlassen kann. Auch in Japan wird fürs kommende Jahr ein drastischer Wachstumseinbruch erwartet, das dynamische Inselreich dürfte als Exportmarkt für Made in Germany noch mehr an Attraktivität einbüßen. Das EG–Handelsbilanz–Defizit gegenüber Japan in Höhe von 20 Milliarden Dollar 1986 dürfte sich eher noch vergrößern. „Wachstumsmotor wird 1987 die Binnenkonjunktur sein“, meint denn auch Minister Bangemann. Das ganze kann natürlich allerhöchstens dann laufen, wenn die Einkommen entsprechend steigen, um hier nach den enthaltsamen Jahren 1982 bis 1985 die nötigen Nachfrageschübe bringen zu können. Man darf daher gespannt sein, wie sich Bangemann in der jetzigen Tarifauseinandersetzung verhalten wird. Seine Sorge wird jedoch recht kurzfristig ausgerichtet sein. Was nach dem 25. Januar passiert, ist erstmal egal. Ob die Binnennachfrage bei den gesättigten Endverbrauchsmärkten überhaupt noch einmal die Konjunktur anheizen kann wie in den 60er Jahren, ist stark zu bezweifeln. Die OECD veröffentlichte gerade dieser Tage ihren neuesten Bericht, in dem es unmißverständlich heißt: Der Aufschwung ist 1987 erst einmal gestoppt. Und ob im kommenden Jahr erneut wie 1986 200.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können, mag erst recht dahingestellt bleiben. Und wenn schon die Tarifverhandlungen dabei eine Rolle spielen, so weniger über die auszuhandelnde Lohnhöhe als über die Arbeitszeit. Inzwischen gilt es als allgemein anerkannt, daß die Arbeitszeitverkürzung im laufenden Jahr hauptverantwortlich war für die Schaffung der 200.000 neuen Arbeitsplätze.