Antirussisch

■ Zu den Protesten in Alma Ata

Die Demonstration von Alma Ata berührt den Kern der sowjetischen Nationalitätenpolitik: Die einzelnen Nationalkulturen sollten sich dem Programm entsprechend zwar eigenständig entwickeln, dabei allmählich zu einer einheitlichen sowjetischen Nation zusammenwachsen - aber die spricht russisch. Der mythischen Übersteigerung russischer Kultur entsprach eine Verkleinerung der anderen. Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen, vor allem aber der Versuch, nationales Selbstbewußtsein zu entwickeln, artikulierte sich daher fast notwendigerweise antirussisch. In den islamischen Regionen sind, dem geschichtlichen Bezug entsprechend, die nationalistischen Bewußtseinsformen immer auch religiös. Auch wenn die Proteste damit noch ncht iranischen Charakter gewinnen, so ordnen sie sich damit doch in nahöstliche Kontexte ein. Die Bevölkerung Kasachstans schließlich ist inzwischen mehrheitlich slawisch. Der Protest richtet sich damit nicht einfach nur gegen Fremdherrschaft, er aktualisiert den Konflikt zweier nebeneinander herlebender Bevölkerungsgruppen. Die Lage ist damit nicht nur komplex, sie kann auch zwiespältige Empfindungen auslösen. Jeder Widerstand gegen Unterdrückung weckt Sympathie. Nationalistische Unterdrückungen rufen aber meist nationalistische Gegenideologien hervor, die nicht weniger borniert sind. Das gleiche gilt für die Verfolgung von Religionen. Daß der Protest sich ausgerechnet gegen die modernisierenden Reformer richtet und damit die korrupten Cliquen der Breshnew–Zeit mit den nationalistisch–islamischen Bestrebungen zusammenführt, ist nur aus dem Gesamthintergrund einsichtig. Erhard Stölting