„Wir bauen die größten Mikrochips der Welt“

■ DDR–Computerindustrie auf dem Vormarsch / RGW–Länder Scherpunktmarkt für den Export / „Robotron“ soll an Weststandard anschließen / Forschungs– und Bildungspolitik fördern eine neue Ingenieurs–Elite / Verweist die „mikroelektronische Revolution“ die Arbeiterklasse auf Platz Zwo?

Von Jürgen Schulz

„Ob wir es schaffen, diese Frage ist nicht zulässig. Nur, wie wir es schaffen“. Franz Rößler, Chefkonstrukteur im Kombinat Mikroelektronik Erfurt, gibt sich zuversichtlich angesichts der volkseigenen Computerindustrie. Ohne Zweifel hat die Entwicklung von Mikroprozessoren in der DDR Fortschritte gemacht. Rund 80% des Eigenbedarfs an den winzigen Schaltkreisen, jubelt die Ostberliner „Neue Berliner Illustrierte“, können durch die einheimische Produktion gedeckt werden: mithin rund 100 Millionen Chips. Daß dennoch ein mißlicher time lag gegenüber den führenden Elektronik–Nationen besteht, ist nicht Rößlers Schuld. Die Fehler wurden begangen, als er, Ende der 50er Jahre, noch zur Schule ging. Damals setzte der junge Arbeiter– und Bauernstaat auf die falsche Technologie. Es mangelte der unter Kriegsfolgen leidenden DDR– Industrie an der notwendigen Infrastruktur. 1971 stellte der kapitalistische Widerpart den ersten Mikroprozeesor vor - erst sechs Jahre später konnte die DDR ein eigenes Modell präsentieren. Allerdings betonte dann im Dezember 1976 das ZK der SED die überragende Rolle der Mikroelektronik. Welche Fortschritte erzielt wurden, unterstreicht Dr. Cord Schwartau vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Westberlin: „Was die Entwicklung von Prototypen angeht, so werden diese inzwischen in der DDR ähnlich schnell herge stellt wie bei uns. Nur vergehen in der DDR zwischen Entwicklung des Prototyps und der Produktion des Computers zirka fünf Jahre. Im Westen beträgt der zeitliche Abstand hingegen etwa zwei Jahre.“ Und dies trotz massiver Intensivierung der DDR–Forschungspolitik im Bereich der Grundlagenforschung an Akademien, Hochschulen oder betrieblichen Einrichtungen (“Kampfprogramme“) sowie einer Neuordnung der Kombinate 1980. Die Gründe sind vielschichtig. So warten die Wirtschaftslenker, um knappes Geld zu sparen, lieber ab, welche Technologie sich am Markt durchsetzt, statt zu entwickeln. Überdies möchte die DDR - so gut es geht - von westlicher Soft– und Hardware unabhängig bleiben. Hierbei kommt ihr zugute, daß der Großteil der Eigenfabrikate in den osteuropäischen Raum exportiert wird. „Mindestens 80 Prozent“ (Schwartau) der für 1986 vorgesehenen 30.000 Exemplare des derzeit gängigsten DDR–Computers „Robotron PC 1715“ aus Dresden gehen in den Export. Für die computervernarrten Jugendlichen im eigenen Land bleibt da so gut wie nichts übrig. Hauptabnehmer der Marken „made in GDR“ ist die Sowjetunion. Im Zuge ihrer High–Tech– Offensive gen Westen (“Robotron“) müssen die VEBler jedoch auch westliche Standards akzeptieren. Daß dabei „ziemlich schamlos bei den West–Konzernen abgekupfert“ wurde, wie der Spiegel süffisant bemerkt, steht außer Frage. Leicht haben es die Apologeten der „Schüsseltechno logie“ (Erich Honecker) im anderen Deutschland auf keinen Fall - weder auf fremden Messen noch daheim. Denn bei der Planwirtschaft in der DDR handelt es sich - entgegen der gängigen Meinung - keineswegs um eine „Druckknopfökonomie“, so der westdeutsche Wissenschaftler Herwig E. Haase, sondern viel mehr um eine „Vielzahl von Entscheidungsorganen und Entscheidungsträgern mit durchaus unterschiedlichen Motivationen und Interessen“. Da gibt es einerseits das Ziel der zentralen Wirtschaftsinstanzen, die allgemeine Versorgung zu verbessern; andererseits das Interesse der Belegschaften, ihre Prämien zu maxi mieren. Vorgaben der Bürokratie zur raschen Modernisierung des Maschinenparks und Rechnersystems werden mitunter mit der Begründung abgeblockt, die Produktion könne nicht urplötzlich umgestellt werden bzw. es bestünden noch Verträge für ältere Serien. Die Vision von der „schönen neuen Welt“ auf der Basis winziger Rechnereinheiten hat im Westen bereits manche Beule abbekommen: das Gespenst eines totalen Überwachungsstaates taucht immer deutlich auf; die Schlangen von Arbeitslosen, die halt nicht IBM–kompatibel sind, zeugen von den Schattenseiten ultraschnellen Rechnens. Doch darüber macht man sich in der DDR - außer in sozial–belletristischen Kreisen - wenig Kopfzerbrechen. Noch immer herrscht zwischen Magdeburg und Frankfurt/Oder, Leipzig und Schwerin Arbeitskräftemangel, der durch einen Rationalisierungseinsatz neuer Technologien (teilweise) behoben werden könnte. Von einer Technikfeindlichkeit unter DDR–Jugendlichen kann beileibe keine Rede sein - immerhin belegen ungefähr 50% aller Studierenden ein naturwissenschaftlich–technisches Fach. Der Beruf eines Computer–Spezialisten rangiert weit vor allen anderen Karrieren. Was für Irritation sorgt, ist die Verträglichkeit neuer Technologien mit der SED–Programmatik. Je kleiner die Mikrochips, desto größer die Gefahr, daß die „Arbeiterklasse“ ihren per Doktrin zuerkannten offiziellen Status als erste Kraft im Lande an eine Schicht hochqualifizierter Ingenieure abtreten muß. Schon jetzt gelten technikbegabte Schüler und Studenten als Hätschelkinder der Nation. Sie werden in „Spezialschulen“, „Schülerakademien“ oder „wissenschaftlichen Schülergesellschaften“ zusammengefaßt und ermitteln auf „Olympiaden“ ihre Meister von morgen. Zu den neuesten Errungenschaften zählen die von Hochschulen / Großbetrieben gesponsorten „Spezialistenlager“ - eine Alternative zu den Schulferien. Heißt es denn also auch in der DDR, Abschied von der Arbeiterklasse zu nehmen, wie Andre Gorz es vor einiger Zeit forderte? Bevölkern demnächst surfende Yuppies aus den Forschungslabors der staatlichen Chip–Konzerne den Müggelsee, und werden Hammer und Zirkel durch Bits and Bites ersetzt? Tatsache bleibt, daß die naturwissenschaftlich–technische Elite einer modernen Gesellschaft immer tonangebend sein wird - besonders in Gesellschaften wie der DDR, die ihre umfassende Sozialpolitik explizit an stetiges Wirtschaftswachstum gekoppelt hat. Nicht von ungefähr fegen die SED– Funktionäre jegliche Wachstumskritik rüde als „Deformation des sozialistischen Bewußtseins“ vom Tisch. Denn sie wissen, daß, wenn der Anschluß an die stärkste Produktivkraftentwicklung seit Menschengedenken verlorengeht, auch das staatliche Gefüge ins Wanken gerät. Die volkseigene Kleinkunst hat das parteiliche Sachzwang–Dilemma bereits in treffende Worte verpackt. Wie dröhnte doch ein Betriebskabarettist im typischen Superlativ–Jargon: „Wir bauen die größten Mikrochips der Welt!“