Uruguay: Amnestie für alle und alles

■ Während Argentinien einen Schlußstrich unter die Abrechnung mit der Militärdiktatur machen will, hat Uruguay beschlossen, damit schon gar nicht anzufangen / Aus Montevideo berichtet Gaby Weber

In einem parlamentarischen Eilverfahren wurde in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo nach einer nächtlichen Diskussion am Montag früh eine Generalamnestie für Militär und Polizei beschlossen. Wie schon am Tag zuvor der Senat, so beschloß auch das Abgeordnetenhaus mit den Stimmen der regierenden Colorado–Partei, alle Straftaten, die vor dem Regierungsantritt der Zivilregierung am 1. März 1985 von den Sicherheitskräften der Militärdiktatur (1973–1985) begangen wurden, von gerichtlicher Verfolgun auszunehmen.

Die Militärs haben ihr Wort gehalten. Am 16. September 1982 verkündete General Gregorio Alvarez, damals faktischer Machthaber im Land, in einer über Rundfunk und Fernsehen ausgestrahlten Rede: „Weder diese Regierung noch die Streitkräfte werden jetzt oder in Zukunft zulassen, daß über ihre Verfahrensweisen und Operationen in Zeiten nationaler Notsituation und internen Kriegszustandes, die durch das Votum des vom Volk legitimierten Parlaments ausgerufen wurden, von Richtern oder Gerichten geurteilt wird. Schließlich ist der Zweck dieser Botschaft, sei es in Gegenwart oder Zukunft, jeden Gedanken an einen Versuch der Überprüfung der Tätigkeit der Streitkräfte, die in mühevoller und eifriger Arbeit ihren Beitrag geleistet haben, auszuschließen.“ Zweieinhalb Jahre später war die Militärdiktatur formal zuende. Die gewählte Zivilregierung des Präsidenten Sanguinetti ließ im Frühjahr 1985 sämtliche politischen Gefangenen frei. Eine Amnestierung der Militärs wurde damals ausdrücklich ausgeschlossen. Die Zeit war dafür noch nicht reif. Im benachbarten Argentinien wurden gerade die Verantwortlichen der Militärdiktatur unter Anklage gestellt, und in Uruguay selbst war jedermann klar, daß man linke Guerilleros und rechte Militärs nicht gleich behandeln konnte. Immerhin waren die einen zwölf Jahre an der Macht und die andern zwölf Jahre im Gefängnis gewesen. Im Gegensatz zu ihren argentinischen Kollegen haben die uruguayischen Militärs keinen Krieg gegen die Briten verloren. Sie haben sich quasi erhobenen Hauptes in die Kasernen zurückgezogen und die Übergabe der Amtsgeschäfte an die Zivilen aus einer Position der Stärke heraus ausgehandelt. Daß sie eine gerichtliche Verhandlung ihrer Missetaten nie zulassen würden, haben sie immer wieder offen verkündet. Das am Montag verabschiedete Amnestiegesetz zeigt nun in aller Deutlichkeit, wie mächtig die Militärs in Uruguay noch immer sind. General Gregorio Alvarez hat sein Wort gehalten: Die Überprüfung der Tätigkeit der Streitkräfte bleibt ausgeschlossen. Die Regeln und die Ausnahmen Der Gesetzestext lohnt, zitiert zu werden: (Auszug): Art. 1 In Anerkennung der Tatsache, daß es der Logik des erfolgten Abkommmens zwischen den politischen Parteien und den Streit kräften im August 1984 entspricht, und um den Übergang zur vollen Gültigkeit der verfassungsmäßigen Ordnung abzuschließen, wird die Strafverfolgung in bezug auf Delikte ausgesetzt, die von Militär– oder Polizeipersonal, ihnen angeschlossenen oder ähnlichen Kräften bis zum 1. März 1985 aus politischen Gründen oder in Erfüllung ihrer Aufgaben und anläßlich von befohlenen Aktionen begangen wurden. Art. 2 Ausnahmen von dieser Regelung: a) die Fälle, in denen die Anklage schon zugelassen wurde und b) die Delikte, die begangen wurden, um sich persönlich zu bereichern. Art. 3 Der Untersuchungsrichter wird wegen jeder Anzeige bei der Exekutive nachfragen, ob die Straftat von der Exekutive als wie in Art. 1 beschrieben angesehen wird. Bejaht die Exekutive diese Definition, stellt der Richter die Ermittlung ein, andernfalls führt er die Untersuchung weiter. Solange die Entscheidung der Exekutive nicht vorliegt, darf der Untersuchungsrichter keine weiteren prozessualen Schritte unternehmen. Bezeichnenderweise ist in keinem Verfahren die Anklage zugelassen worden, so daß Art. 2 Abs. a) allenfalls kosmetische Bedeutung zukommt. Und auch Art. 2 Abs. b) gibt ein beredtes Beispiel für die juristischen Haarspaltereien: Bei allen Hausdurchsuchungen klauten Polizei und Militär, was das Zeug hielt. Aber keine der Durchsuchungen war offiziell angeordnet, um zu klauen. Die uniformierten Langfinger werden nach der Logik des Gesetzes nicht bestraft. In Zukunft muß jeder Richter beim Staatspräsidenten nachfragen, ob zum Beispiel die Vergewaltigung der Gefangenen oder der Ehefrau oder der Tochter des Gefangenen (vor dessen Augen, um ihn zur Aussage zu zwingen), „aus politischen Gründen“ geschah oder „befohlen“ war. Im zweiten Fall war es eben kein sexueller, sondern ein „Befehls“–Notstand. In Uruguay sind praktisch alle 50.000 Menschen, die während der zwölfjährigen Diktatur im Gefängnis gesessen haben, gefoltert worden, also jeder 50. Bürger. Diese Torturen können nach dem Amnestie–Gesetz nicht mehr verfolgt werden, selbst wenn eindeutige Beweise vorliegen. Insgesamt sind etwa 50 derartige Verfahren anhängig. Auch die Morde der Todesschwadronen werden nicht verfolgt, da ihre (privaten) Killer polizeiähnlich waren (Art. 1) und sie aus „politischen Gründen“ mordeten. Zum Thema der Verschwundenen heißt es in Art. 4, daß die Ermittlungsrichter „bis zum Inkrafttreten des Gesetzes“ alle Aussagen der Exekutive vorlegen müssen, die versuchen wird, diese Fälle aufzuklären. Das betrifft auch die entführten Kinder. Von Bestrafung ist auch in diesem Zusammenhang keine Rede. Ein Gesetz für Gavazzo Die Hektik bei der Verabschiedung war nötig, nachdem Mitte November der Oberste Gerichtshof entschieden hatte, daß die Zuständigkeit für Verfahren, in denen es um Menschenrechtsverletzungen geht, bei der Zivil– und nicht bei der Militärjustiz liegt. Für Montag, war Oberstleutnant Jose Nino Gavazzo vor die Ziviljustiz geladen, um über seine Beteiligung an Folterungen, Vergewaltigungen und Morden an Uruguayern in den siebziger Jahren aus zusagen. Gegen Gavazzo läuft wegen seiner Aktivitäten im geheimen Folterzentrum „Orletti“ in Buenos Aires auch ein Auslieferungsantrag der argentinischen Justiz, den die uruguayische Regierung vor kurzem wegen angeblicher „Formfehler“ postwendend zurückgeschickt hat. Die Militärs haben wiederholt erklärt, daß sie vor Zivilrichtern nicht erscheinen werden. Gavazzo wird nach der rechtzeitigen Verabschiedung des Amnestiegesetzes weiterhin ruhig schlafen können, nicht nur vor dem Zugriff der argentinischen Justiz geschützt, sondern auch - jetzt ganz rechtsstaatlich - vor dem Zwang zur Aussage. „Ich wußte gar nicht“ - so kommentierte der Senator der linken „Frente Amplio“, German Araujo - „daß Gavazzo in diesem Land soviele Freunde hat, die für ihn extra ein Gesetz machen“. Man müsse einen Schlußstrich ziehen und den Blick nach vorne richten, hatte die Regierungspartei seit Monaten gepredigt. Ihre Logik faßte in der Senatsdebatte Carlos Digliuti so zusammen: Es handle sich nicht „um ein Problem mit den Menschenrechten, sondern um eine institutionelle Angelegenheit“. Die Verhandlungen mit den Militärs Mitte 1984 im sogenannten „Marine–Klub–Pakt“ hätten nicht ausgereicht, um die Situation nachhaltig zu klären. Zwar habe man im März 1985 noch bei Regierungsantritt die Amnestie für die politischen Gefangenen gewährt und Polizei und Militär davon ausdrücklich ausgeschlossen. Aber - so der Senator - die Situation verändere sich, das Land befinde sich im Übergang. Durch das Amnestie–Gesetz werde „die politische Demokratie geschützt.“ Tabu Auch die bürgerliche Oppositionspartei, die Nationale Partei, sprach von einer „institutionellen Krise“. Was darunter zu verstehen sei, sprach keiner offen aus; einen erneuten Staatsstreich zu erwähnen, obwohl man mit ihm pokerte, war tabu. Das Problem sei nicht, so Gonzalo Aguirre von der Nationalen Partei, daß Gavazzo der richterlichen Vorladung keine Folge leisten werde, sondern „daß die gesamte staatliche Autorität von den Streitkräften ignoriert würde“. Der Heereschef Hugo Medina habe alle Vorladungen in seinem Panzerschrank gesammelt und werde am Montag (gestern) öffentlich erklären, daß „seine Untergebenen nicht vor den Gerichten erscheinen würden, weil er (Medina) das so entschieden habe“. Dies würde, so der nationale Senator, die staatlichen Organisationen der Lächerlichkeit preisgeben, sie ihres „Prestiges berauben“, und um dies zu verhindern, müsse man die Amnestie verabschieden. Verständnis hatten sowohl Colorados wie Nationale für das Verhalten der Militärs. „Niemand gibt etwas auf“, so zitierte Aguirre den Heereschef, „ohne etwas dafür zu bekommen, und schon gar nicht, wenn er am Schluß dafür ins Gefängnis muß.“ Dies sei nun mal so in der Politik, und deshalb solle man lieber gleich Tacheles reden: „Es gibt keine Wahl zwischen Rechtsstaatlichkeit und Straflosigkeit, in der Politik sollten wir in der Sprache der Realität reden.“ Die Opposition spricht von einer „beaufsichtigten Demokratie“, in der den Militärs von den bürgerlichen Parteien vorab ein Teil an der Macht garantiert wird und ihnen ein Freibrief auch für die Zukunft ausgestellt wird. Die „Frente amplio“ hat angekündigt, das Gesetz überprüfen zu lassen. Die Amnestie verstoße nicht nur gegen die Verfassung des Landes, sondern auch gegen internationale Abkommen, die Uruguay unterzeichnet hat. Darin werden die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ - wie z.B. Folter an Gefangenen - von einer Amnestie und von Verjährung strikt ausgenommen. Ob nach dem Amnestie–Gesetz wirklich, wie von der Regierung beabsichtigt, der Schwamm–drüber–Effekt eintritt und das große Vergessen ausbricht, ist unwahrscheinlich. Die „Mütter der Verschwundenen“ und auch die Tupamaros, die heute als legale politische Kraft arbeiten, wollen jedenfalls die Strategie der Verdrängung torpedieren. Sie haben aufgerufen, 500.000 Unterschriften zu sammeln - das ist ein Drittel der stimmberechtigten Bevölkerung -, um ein Plebiszit über die Amnestie zu erzwingen.