Radikale Minderheit

■ Alfonsin diffamiert „Mütter der Plaza de Mayo“

Argentinien schien befriedet, jede oppositionelle Stimme zum Schweigen gebracht. Tausende waren verschleppt, über dem Atlantik aus dem Flugzeug geworfen oder in der Pampa verscharrt worden, als im Frühling 1977, ein Jahr nach der Machtübernahme der Militärs, eine kleine radikale Minderheit auf den Plan trat: sieben Frauen. Jeden Donnerstagnachmittag versammelten sie sich auf der Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires vor dem Amtssitz des Präsidenten und wurden immer mehr. Schweigend trugen sie Schilder mit Bildern ihrer „verschwundenen Söhne“. Bald wurden die „Mütter der Plaza de Mayo“ zur moralischen Instanz einer Nation, deren Herrscher jede politische Moral systematisch zu zerstören versuchten. Als 1982 General Gualtieri Argentinien in den Krieg gegen die Briten führte, jubelten ihm seine Landsleute zu. Die „Mütter der Plaza de Mayo“ wiesen mitten im nationalen Begeisterungstaumel auf ihre „Verschwundenen“ hin. Aber erst als die militärische Niederlage besiegelt war und sich die Wut der Argentinier nun nicht mehr gegen die Briten, sondern gegen die eigene Regierung richtete, wurde die kleine radikale Minderheit zum glaubwürdigsten Repräsentanten der übergroßen Mehrheit, die die Abrechnung mit der Diktatur wollte. Präsident Alfonsin nahm nach seinem Amtsantritt den demokratischen Impuls auf, der von den „Müttern“ ausging, um 1985 mit den obersten Militärdiktatoren abzurechnen und gleichzeitig seine eigene Machtposition zu festigen. Jetzt, wo Alfonsin fest im Sattel sitzt und jede weitere Auseinandersetzung mit den Militärs ihm nur unnötige Spannungen beschert, diffamiert Alfonsin die einzige Gruppe, die während der sieben Jahre Militärdiktatur Widerstand geleistet hat, als Saboteure der nationalen Aussöhnung. Die „Mütter“ aber sind nun wieder eine kleine radikale Minderheit, die die große Politik, diesmal die parlamentarischen Geschäfte, stört. Mit dem Schlußstrich–Gesetz verpassen Argentiniens Politiker eine einmalige Chance, das argentinische Trauma zu bewältigen, die Demokratie in diesem putschträchtigen Land zu festigen und die Militärs in ihre Schranken zu weisen. Thomas Schmid