Steuerpolitik: kein Umsteuern in Sicht

■ Steuerreform nach dem Mathäus–Prinzip:“Wer hat, dem wird gegeben.“ / Bei der CDU soll sich „Leistung“, bei der SPD „Arbeit“ lohnen / Soziale und ökologische Ziele unterbelichtet / Steuersenkungsversprechen sind Standard–Repertoire im Wahlkampf

Von Michaele Schreyer

Wäre Stoltenberg ein Türke, der in diesem unserem Lande für 2.000 DM brutto im Monat den ganzen Tag lang Mist von dem kleineren auf den größeren Haufen schaufeln müßte, und hätte er eine Frau und ein kleines Kind im fernen Anatolien, so müßte er in diesem Jahr - wie Tausende seiner Landsleute - 652 DM mehr Steuern zahlen als im Vorjahr. Warum? Wegen der“größten Steuersenkung aller Zeiten“, des Steuersenkungsgesetzes 1986/88. Dieses bestimmt in seinem familienfreundlichen Teil über Kinderfreibeträge, daß im Ausland lebende Kinder nicht mehr auf der Steuerkarte berücksichtigt werden, weshalb dieser Türke jetzt wie ein Lediger ohne Kinder besteuert wird. Aber Stoltenberg ist kein Türke, sondern Deutscher und er schaufelt keineswegs Mist, sondern seit Jahren als Finanzminister den Reichen und der Wirtschaft die Steuerlast beiseite, er verdient nicht 2.000 DM im Monat, sondern 236.000 DM im Jahr und er zahlt 1986 nicht mehr, sondern 3.000 DM weniger Steuern als im letzten. Im kommenden Jahr wird er nochmals 4.050 DM Steuern sparen. Dann tritt nämlich die zweite Stufe des Steuersenkungsgesetzes in Kraft, nach dem sich „Leistung wieder lohnen“ soll. Von dieser zweiten Stufe profitiert nur, wer ein überdurchschnittliches Einkommen hat. Die anderen haben schon 1986ihre „volle Entlastung“ erhalten: für untere Einkommen sechs DM im Monat (für Ehepaare zwölf DM). Dagegen mußten sich ledige Spitzenverdiener mit einer ersten Entlastung von 1.596 DM im Jahr begnügen und für die zweite Entlastung von 2.069 DM bis zum Jahr 1988 gedulden. Diesen Spitzenverdienern aber will die SPD diese zweite Entlastung streitig machen. In haarscharfer Abgrenzung zu den Koalitionsparteien propagiert sie unter dem Motto „Arbeit muß sich lohnen“ eine andere Verteilung der 8,5 Mrd. DM Steuerverzichte. Nach dem Rau–Plan sollen neun von zehn Verheirateten und acht von zehn Ledigen weniger Steuern zahlen als nach dem Kohl– Gesetz. Rein rechnerisch wäre damit die Mehrheit für Rau gesichert - vorausgesetzt, daß z.B. Alleinstehende mit unteren Einkommen für 9 DM mehr im Monat rot wählen. Aber um diese Einkommensbezieher/innen buhlt die SPD weniger mit den Koalitionsparteien, auch nicht um die reichsten 0,5% dieser Republik, die nach dem Rau–Vorschlag mehr Steuern zahlen müßten als heute. Gebuhlt wird um den Mittelstand und die gut verdienenden Facharbeiter. Sie würden am meisten zusätzlich in der Tasche haben, wenn nicht die christlich–liberale Koalition, sondern Rau die absolute Mehrheit hätte. Es müßte schon die absolute Mehrheit sein. Denn die Grünen widersetzen sich allen allgemeinen Steuersenkungsversprechen. Sie halten Maßnahmen zur Bekämpfung der Umweltzerstörung, der Armut und der Arbeitslosigkeit für dringlicher als allge mein steuerliche Entlastung derjenigen, die ein Einkommen haben. Allerdings schlagen sie eine Reform der Steuertarife vor, die „radikal sozial“ sein soll. Leute mit geringem Einkommen sollen danach bis zu 100 DM im Monat (Verheiratete bis zu 200 DM) weniger Steuern zahlen. Für Arbeitnehmer/innen mit Durchschnittseinkommen (1988: rund 40.000 DM brutto im Jahr) soll die Steuerlast so bleiben wie sie ist - also nicht gerade niedrig -, während Einkommen darüber umso mehr zur Kasse gebeten werden sollen, je höher sie sind. Unterm Strich soll diese Reform keinen Steuerausfall zur Folge haben, sondern eine „aufkommensneutrale“ Umverteilung sein. Es ist deutlich: die Zielsetzungen werden hier anders gesetzt. Alle 3–Buchstaben–Parteien wollen die privaten Einkommen erhöhen, wobei Rau besonders will - wie es in der wirtschaftspolitischen Begründung seines Steuervorschlags heißt -, daß die gesparten Steuern „in die bundesdeutschen Kaufhäuser getragen“ werden. Die Grünen halten dagegen die 24 DM mehr verfügbaren Geldes, das der Normalverdiener nach dem Rau–Plan in der Tasche hätte, für einen fraglichen Vorteil. Für sie stellt es keinen Lebensqualitätssprung dar, wenn die Kaufkraft für fünf oder sechs zusätzliche Kästen Mineralwasser zur Verfügung steht, aber gleichzeitig das Wasser aus der Leitung wegen der Nitratbelastung ungenießbar ist, oder wenn aus den Steuerersparnissen von drei Monaten eine Gasmaske angeschafft werden kann für den Fall, daß nebenan das Chemiewerk in die Luft geht. Aber nicht solche Überlegungen sind en vogue, sondern Steuersenkungsversprechen - wie in jedem Wahlkampf. Dies umso mehr, als die Koalitionsparteien durch die Zukunftsvision einer „Super–Steuerreform“ von der unsozialen Begünstigungsverteilung der „größten Steuerreform“ abzulenken versuchen. 40 Mrd. DM Steuerentlastung bietet Stoltenberg immerhin an, von denen nur die Hälfte durch Streichungen bisheriger Vergünstigungen hereingeholt werden soll. Ein solches Versprechen ruft natürlich alle Verbände und Lobbyisten auf den Plan und kaum ein Tag vergeht in Bonn, an dem nicht neue Entlastungswünsche angemeldet werden. Kein Wunder, daß Stoltenberg der gefragteste Politiker der Republik ist, läßt sich doch der Nutzen eines Finanzministers leicht in Mark und Milliarden errechnen. Der Nutzen war bisher besonders groß für die Wirtschaft, hat er doch den Unternehmen in dieser Legislaturperiode rund 30 Mrd. DM weniger an Steuern abverlangt als sie nach dem bis zur Wende bestehenden Steuerrecht hätten zahlen müssen. Und für die nächste Legislaturperiode werden weitere Unternehmensentlastungen angekündigt - um den Kapitalverkehr zu erleichtern, die Eigenkapitalausstattung zu erhöhen, die Investitionen zu fördern. Auch die SPD ist dem Anliegen ihrer Arbeitsgemeinschaft der Selbständigen nachgekommen und hat steuerliche Erleichterungen für Investitionen in ihr Programm hineingeschrieben. Nur die Grünen halten nicht jegliche Investition für förderungswürdig, sondern wollen durch eine Kombination von Umweltabgaben einerseits und daraus finanzierten Investitionshilfen andererseits den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft vorantreiben. Aber eine Mehrheit für eine Ökologisierung der Steuerpolitik, eine Mehrheit für ein Umsteuern ist nicht in Sicht.