Neujahr ohne Hoffnungsschimmer

■ Beim Jahreswechsel in Beirut waren Knallkörper überflüssig - geballert wurde aus der beliebten „Kalashnikov“ Seit September 600 Tote im Lagerkrieg / 12 Jahre Krieg und Wirtschaftskrise zerstören Lebensbedingungen im Libanon

Aus Beirut Petra Groll

Strahlende Sonne, ein blauer Winterhimmel und das Geräusch einer kleineren Explosion begrüßten die Bewohner des Westteils der libanesischen Hauptstadt Beirut am ersten Tag des neuen Jahres. Obwohl Westbeirut fast nur noch von Moslems bewohnt wird, gab es Feste, Partys und Gala–Diners, um den Jahreswechsel christlicher Zeitrechnung einzuleiten. Restaurants hatten ihre Feiern annonciert, auf den Straßen wurden allerlei Utensilien feilgeboten, die Party daheim zu verschönen: bunte Girlanden, Pfeifen und Rasseln in allen Tonarten, glitzernde Hütchen und Plastikmasken. Feuerwerk und Knallkörper brauchte freilich niemand einzukaufen. Leuchtkugeln und Leuchtspurmunition durchzogen den sternenklaren Nachthimmel um Mitternacht. In den ersten Minuten des neuen Jahres hallte das Feuer aus hunderten von Sturmgewehren vom Typ M16 und AK47 durch die Stadt. Magazin um Magazin der weltweit als die Waffe von Guerilla und Befreiungsbewegungen schlechthin bekannten und geliebten „Kalashnikov“ wurde in die Luft geschossen. Die Tagesnachrichten von der Ermordung dreier jüdischer Geiseln, der Fortsetzung der Kämpfe an allen Fronten, und dem hoffnungslosen Besuch der Ehefrau eines gekidnappten französischen Journalisten in der Stadt wurden mit einer Explosion im Geschäftszentrum in den Hin tergrund gerückt. Noch in den letzten Stunden des Jahres wurden die menschlichen Tragödien des Landes um drei Opfer erweitert, die Verletzungen davontrugen. Der „Lagerkrieg“ zwischen libanesischen Schiiten und Palästinensern zieht auch ins Jahr 87 ein. Die verhängnisvolle Auseinandersetzung zwischen Schiiten, deren Glauben sich im wesentlichen um das Martyrium ihres Imams Hussein dreht, und Palästinensern, die immer wieder gezeigt haben, daß sie bereit sind, für ihr Volk in den Märtyrertod zu gehen, hat seit Ende September 600 Todesopfer und 2.000 Verletzte gefordert, zigtausend Menschen sind auf der Flucht. Obwohl Amal–Chef Nabih Berri bereits vor drei Tagen aus seinem derzeitigen Domizil in der syrischen Hauptstadt Damaskus einen absoluten Waffenstillstand verkündete, nahmen weder die Bombardements und die Auseinandersetzungen zwischen Scharfschützen ein Ende, noch die gegenseitigen Beschuldigungen der beteiligten Parteien. Lediglich ein Gefangenenaustausch markierte als Goodwillgeste ein Eingeständnis an die Hoffnung. Von Frieden ist nur noch die Rede, wenn Politiker ihre offiziellen Botschaften verkünden. Der latente Kriegszustand im Libanon zählt 1987 das zwölfte Jahr, und Frieden ist nicht in Sicht. Die Kluften zwischen den Menschen werden mit jedem Schützengraben tiefer, die Koalitionen werden immer kleiner. Nach einer neuerlichen Eskalation der Gewalt in den vergangenen Wochen, angefangen bei den Widerstandsaktionen gegen die israelischen Besatzer im sogenannten Sicherheitsstreifen, Attentate gegen Soldaten der UNIFIL, über die unbarmherzige Blockade und Bombardierung von Palästinenserlagern, eine gnad man nächtens auf, wenn die Motoren der Rover aufheulen, die Patrouillen der Milizen, aufgeschreckt durch Explosionen oder Schußwechsel, durch die Straßen jagen, Sirenen von Ambulanzen und zivilen Geheimdienstfahr zeugen die Nachtruhe zerreißen. Viele Beirutis befürchten, daß zusätzlich zum Lagerkrieg auch Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten ausbrechen könnten, die keinesfalls bereit sind, eine Vorherrschaft von Amal hinzunehmen. Die Ankündigung eines syrisch–libanesischen PräsidentenGipfels vermag diese düsteren Vermutungen keinesfalls zu beruhigen. Einer Neujahrsansprache Präsident Gemayels wird im moslemischen Westen überwiegend mit Zynismus begegnet. 1987 werde das Jahr der Ernte, sagte Gemayel am Silvestertag, die Libanesen würden in diesem Jahr die Früchte jahrelangen Kampfes und Widerstandes ernten. Die „Ernte“ ist nicht mehr zu übersehen: chronischer Ausfall der Wasser– und Stromversorgung, Mangel an Brot und Benzin, die Lebensmittelpreise stiegen im vergangenen Jahr um 200 Prozent, während die Landeswährung um 365 Prozent an Wert verlor. Deshalb war bei den privaten Zusammenkünften am Jahreswechsel auch kaum die Rede von „Frieden“ oder „politischer Lösung“. Die Gedanken kreisten vielmehr um die individuelle Zukunft in einer Tristesse, deren Ende unabsehbar scheint. Woher in Zukunft das Geld nehmen, wenigstens ein annehmbares Familienleben führen zu können? Wird man noch die rauschenden Feste feiern, den Lebensstandard aufrechterhalten können, der bislang wenigstens einen Teil des Leidens auszugleichen vermochte, das der Krieg mit sich führt? Die ökonomische Krise des Libanon hat endlich die letzte Bastion erreicht, hinter der sich das Individuum verschanzen konnte.