Lager Chatila ist nur noch ein Trümmerfeld

■ Die Palästinenserlager in Beirut werden von der Schiitenmiliz eisern im Griff gehalten / Belagerung für Lager Raschediyeh kurzzeitig für Hilfsgüter gelockert / In Chatila bleiben die Bewohner und Hunderte Verletzter weiter eingeschlossen

Aus Beirut Petra Groll

Am Samstagnachmittag erreichte nach mehr als drei Monaten totaler Blockade der erste Konvoi mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern die 1.700 Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers Rashediyeh im Südlibanon. Fünf LKWs mit Hilfsgütern und sieben Krankenwagen des libanesischen Roten Kreuzes ,von den Bewohnern freudig begrüßt, ließen die Belagerer, Angehörige der Schiitenmiliz Amal, passieren und folgten damit nach wochenlanger Verzögerung vielfältigen Aufrufen der iranischen Staatsführung. Der für die Region zuständige Amal–Verantwortliche Daoud–Daoud kündigte gleichzeitig jedoch an, die militärische Blockade des Lagers werde fort gesetzt, bis die Palästinenser ihre Waffen niederlegten. Während im Südlibanon damit wenigstens ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation der palästinensischen Flüchtlinge unternommen wurde, dauert der „Lagerkrieg“ in der Hauptstadt Beirut an. Dort halten Amal–Milizen und Angehörige der „regulären“ libanesischen Armee die Lager Bourj– el–Brajneh (ca. 17.000 Bewohner) und Chatila (ca. 3.500 Bewohner) eisern im Griff. Bedrohliches Pfeifen begleitet die Kugeln der Scharfschützen, Salven prasseln. Hin und wieder bellt eine Maschinenpistole dazwischen, die Detonation von Granaten folgt als Echo. Dann scheinen die Schützen zu verschnaufen. Doch nur wenige Minuten vergehen bis zum nächsten todeswütigen Disput. Die Lager in Südbeirut sind eine der Fronten im „Lagerkrieg“ zwischen der libanesischen Schiitenmiliz Amal und den Palästinensern, der in den vergangenen Monaten fast 600 Menschen das Leben gekostet hat. Im obersten Stockwerk eines halbfertigen Hauses in Sabra - das Gebiet wurde während des Lagerkriegs 1985 größtenteils zerstört - haben sich Scharfschützen ihr Nest eingerichtet. Unzählige leergeschossene Munitionshülsen knacken bei jedem Schritt. Ein altes Sofa im Hintergrund des Raumes zum Ausruhen, ein gepolsterter Bürosessel zum Arbeiten hinter einem Wall von Sandsäcken. Dann der Blick über den ehemaligen Haupteingang auf das Lager Chatila. Überall Trümmer, nicht ein Haus, nicht eine Wand, die nicht zerstört oder beschädigt ist. Keine Straße, keine Gasse ist mehr zu erkennen. Die kleine Moschee im Zentrum des Lagers, einstmals Orientierung im Netzwerk der Gänge, ist nicht mehr auszumachen - Resultat von nunmehr fünf Wochen andauernden unbarmherzigen Bombardements mit schwerer Artillerie. Ein vielleicht drei bis vier Quadratkilometer großes Ruinenfeld, von Menschenleben keine Spur. Die Vorstellungskraft reicht nicht aus, sich ein Bild davon zu machen, wie die Menschen in diesem trostlosen Trümmerfeld Chatilas dennoch ausharren können. 3.500 Menschen, seit mehr als einem Monat ohne Sonne, ohne frische Luft, ohne frische Lebensmittel, ohne Elektrizität, eingepfercht mit ihrer Angst in Kellern und Bunkern. „Ich denke oft an Tel Zaatar“, benennt eine der eingeschlossenen Frauen im Funkgespräch ihre Furcht. Damals, 1976, mußten die Palästinenser dieses Lager im Osten Beiruts aufgeben, als die Bevölkerung nach monatelanger Belagerung an Wassermangel zugrunde zu gehen drohte. Die nach der Niederlage abziehenden Menschen wurden dennoch massakriert. Sie habe Angst vorm Sterben, aber mehr Angst noch vor dem Tod anderer, sagt sie. Vorerst aber versuchen die Menschen, ihr Überleben zu organisieren. Trinkwasser ist zwar ausreichend vorhanden, doch da fast alle Leitungen zerstört sind, müssen die Eingeschlossenen zum Beschaffen des wichtigsten aller Lebensmittel jedes Mal den Gang an die Oberfläche wagen. Besonders schwierig ist die Versorgung der Kinder, denn Milchpulver ist knapp. Auch die Vorräte an Medikamenten gehen langsam zur Neige. 300 Verwundete hat das kleine unterirdische Feldhospital zu versorgen, davon 65 in äußerst kritischem Zustand. Regen, Kälte und mangelnde sanitäre Verhältnisse machen den übrigen Lagerbewohnern das Leben schwer. Chatila, das sagt nicht nur der Blick aus der Perspektive des Scharfschützen, ist das schwächste Glied in der palästinensischen Widerstandsfront im Libanon. Es ist mit Abstand das kleinste Lager. Schutz kann es seinen Bewohnern kaum noch bieten. Im untersten Stockwerk des Rohbaus sitzen Amal–Milizionäre und schlürfen dampfenden Tee. „Wir werden sie aus ihren Löchern holen, wir haben Zeit“, sagt einer. Auf den Spuren, die der Transporter einer schweren Haubitze hinterlassen hat, geht es zurück durch die engen Straßen von Sabra. In einem kleinen Laden zu ebener Erde verkauft eine Frau Kekse, Coca–Cola und Zigaretten, die Milizionäre und die Soldaten der ersten und sechsten Brigade der libanesischen Armee, die Seite an Seite gegen die Palästinenser kämpfen, sind derzeit ihre einzigen Kunden. Früher haben hier Palästinenser und Libanesen, gleich ob Sunniten oder Schiiten,sogar in denselben Häusern zusammengelebt.