Nazi–Verbrecherliste nach Bonn geschickt

■ Die 44 Männer waren laut Wiesenthal–Zentrum (Los Angeles) in Litauen und Lettland an der Ermordung von Juden beteiligt

New York (dpa) - Rabbi Marvin Hier, Leiter des Simon–Wiesenthal–Zentrums in Los Angeles, das sich die Verfolgung von Nazi– Verbrechern zur Aufgabe gemacht hat, hat Bundeskanzler Helmut Kohl und Justizminister Hans Engelhard eine Liste mit den Namen von 44 mutmaßlichen Kriegsverbrechern geschickt. Das teilte Rabbi Hier in einem dpa–Interview in New York mit. Die 44 Männer, deren Namen Hier bislang nicht öffentlich enthüllt hat, sollen sich während des Zweiten Weltkriegs als Mitglieder der SS, der Gestapo, des Sicherheitsdienstes sowie lokaler Polizei–Einheiten in Litauen und Lettland teilweise schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben. In der Dokumentation des Wiesenthal–Zentrums werden die meisten von ihnen als Mittäter bei Massenmorden vor allem an Juden genannt. Bei anderen Namen werden nur Zugehörigkeiten in Organisationen wie der litauischen SS–Legion, aber keine konkreten Verbrechen angegeben. Hier sagte, er sei nicht sicher, ob alle Genannten, die nach den Unterlagen heute um die 70 Jahre alt sein müßten, noch leben oder ob sie sich noch in der Bundesrepublik aufhalten. Das Zentrum habe ihre Spuren nur bis in die 60er Jahre verfolgen können. Das Wiesenthal–Zentrum sei auf die Namen gestoßen, als es umfangreiche Listen mit Daten von Ostflüchtlingen auswertete, die nach dem Zweiten Weltkrieg vom Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen angelegt worden waren, sagte Hier. Seine Organisation sei vor einigen Monaten „durch legale Mittel“ in den Besitz der Listen gelangt, doch wollte er die näheren Umstände nicht mitteilen. Durch Vergleich der Namen auf diesen Listen mit den von jüdischen Organisationen angelegten Kriegsverbrecherkarteien sei das Zentrum auf zahlreiche Verdächtige gestoßen, die nach dem Kriege in den Westen geflohen seien und sich teils in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, teils in anderen westlichen Staaten niedergelassen hätten. Insgesamt seien auf diese Weise bisher rund 200 mutmaßliche Kriegsverbrecher in Brasilien, Venezuela, Kanada, Schweden und Australien entdeckt worden. In seinem Brief an Kohl schreibt Hier, die „Nazi–Mörder“ hätten in Litauen und Lettland „ihren größten Erfolg“ verbucht. In Litauen hätten von 225.000 Juden nur etwa 2.000 bis 3.000 den Krieg überlebt, in Lettland nur ein paar hundert von 95.000. Die Versöhnung mit dem jüdischen Volk, die der Bundeskanzler wünsche, müsse „auf dem Fundament der Gerechtigkeit ruhen“, sagte Hier. Es sei „eine Beleidigung, daß wir uns versöhnen sollen, wenn Mörder wie diese die Luft Deutschlands verschmutzen“.