SPD klagt gegen kalte Aussperrung

■ Beim Bundesverfassungsgericht Normenkontrollanträge eingereicht / Seit Mai 1986 ist der geänderte 116 AFG in Kraft / Danach kein Geld vom Arbeitsamt für mittelbar von Arbeitskämpfen betroffene Arbeitnehmer

Von Martin Kempe

Bonn/Berlin (dpa/taz) - Das SPD–regierte Bundesland Nordrhein–Westfalen und die SPD– Bundestagsfraktion haben am Freitag beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Normenkontollverfahren gegen die heftig umstrittene Änderung des § 116 Arbeitsförderungsgesetzt (AFG) eingereicht. NRW–Ministerpräsident und SPD–Kanzlerkandidat Johannes Rau und der SPD–Fraktionsvorsitzende Jochen Vogel begründeten diesen Schritt am Montag vor Journalisten damit, daß die nach ihrer Meinung verfassungswidrige Gesetzesänderung den „schwersten Sozialkonflikt seit 1949“ ausgelöst habe. Die seit Ende Mai 1986 geltende Neuregelung verändere die gesellschaftlichen Kräfteverhältnise zum Nachteil der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften und stärke das Kapital, sagte Vogel. Rau kündigte an, daß auch die übrigen SPD–regierten Bundesländer der Klage beitreten werden. Schon Mitte Dezember hatte die Industriegewerkschaft Metall eine Verfassungsbeschwerde gegen die Neufassung des § 116 AFG eingelegt. Fernwirkungen von Arbeitskämpfen Der im März 86 gegen den erbitterten Widerstand der Gewerkschaften und der Oppositionsparteien durchgepaukte Paragraph regelt die Zahlung von Arbeitslosen– bzw. Kurzarbeitergeld für mittelbar von Arbeitskämpfen betroffene Arbeitnehmer. Ausgangspunkt des Konflikts war der Arbeitskampf um die 35–Stunden– Woche im Frühjahr 1984, in dessen Verlauf hunderttausende Beschäftigte vor allem in der Automobilindustrie außerhalb der umkämpften Tarifgebiete in Baden– Württemberg und Hessen aufgrund der Fernwirkungen des Arbeitskampfes zeitweilig nicht beschäftigt wurden. Die Bundesanstalt für Arbeit hatte diesen „kalt ausgesperrten“ Arbeitnehmern übereinstimmend mit der Politik der Regierungskoalition Unterstützungsleistungen verweigert, war dann aber durch Urteile des hessischen und Bremer Landesgerichtshofs zur Zahlung verpflichtet worden. Erst durch diese Urteile wurden seinerzeit die Arbeitgeber nach Meinung von Beob achtern zum Einlenken auf den 38,5–Stunden–Kompromiß veranlaßt. SPD sieht Grundgesetz verletzt Die im letzten Jahr verabschiedete Novellierung des § 116 AFG ist die Reaktion der Regierungskoalition auf den 1984er Arbeitskampf. Danach können in Zukunft mittelbar von Arbeitskämpfen beroffene Arbeitnehmer des gleichen fachlichen Geltungsbereichs (also z.B. der Metallindustrie) außerhalb der umkämpften Tarifgebiete keine Leistungen des Arbeitsamts mehr erhalten. Die SPD sieht dadurch die Grundgesetzartikel 3 (Gleichheitsgrundsatz), 9 (Koalitionsfreiheit) und 14 (Eigentumsgarantie) verletzt. Arbeitnehmer seien unterschiedlich von den Fernwirkungen eines Arbeitskampfs betroffen, und es hänge oft nur von Zufällen ab, in welchen Betrieben solche Fernwirkungen einträten. Die Gesetzesänderung bevorzuge die Arbeitgeber im Arbeitskampf und mache den Arbeitnehmern die Ansprüche auf die von ihnen eingezahlten Beiträge zur Arbeitslosenversicherung streitig. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird im Verlauf des nächsten Jahres erwartet, also erst nach der Wahl und der für das Frühjahr anstehenden Arbeitszeitrunde in der Metallindustrie.