„Die Russen haben Angst“

„Gorbatschow“, sagt Golbuddin Hekmatyar, der Chef der fundamentalistischen Islamischen Partei, einer der sieben afghanischen Widerstandsgruppen, „hat eingesehen, daß im afghanischen Bergland außer Schimpf und Schande nichts zu gewinnen ist. Jetzt sucht er verzweifelt nach einer politischen Lösung, um ohne Gesichtsverlust unser Land zu verlassen.“ Die Ansicht des fundamentalistischen Hekmatyar teilen auch die Führer der anderen sechs muslimischen Parteien mit Sitz in Peshawar. Seit der ausgesprochen konzilianten Rede Gorbatschows in Indien, wo er vor zwei Monaten den baldigen Abzug seiner Truppen aus Afghanistan verkündete, betrachten die Mudjaheddin die versöhnlichen Töne aus Moskau nicht mehr als bloße Propaganda. „Nadjibullah“, so Hekmatyar, „war die letzte Trumpfkarte der Sowjets. Jetzt merken die Leute im Kreml, daß er nur ein Maulheld ist.“ Tatsächlich ist es dem neuen Staatschef Mohammad Nadjibullah nicht gelungen, die beiden miteinander rivalisierenden Fraktionen der herrschenden Volksdemokratischen Partei Afghanistans, die Partscham und Chalq miteinander zu versöhnen und so das Regime politisch zu stabilisieren. Im Gegenteil, wie Augenzeugenberichte aus Kabul zeigen, ist selbst seine eigene Fraktion, die Partscham, inzwischen in mehrere Gruppen gespaltet: die Gruppe Nadjibullah, Anhänger des mittlerweile spurlos verschwundenen Babrak Karmal und die Parteigänger von Premierminister Keschman. Moslem als Chef des Revolutionsrates Als Zeichen der sowjetischen Bereitschaft zu einer politischen Lösung verstehen die Mudjaheddin die Ernennung von Hadji Mohammed Chamkami, einem gläubigen Muslim, der parteilich nicht gebunden ist, zum Vorsitzenden des Revolutionsrats - eine Art Staatspräsident. Chamkami symbolisiert nach Hekmatyar die Vorstellung der Sowjetunion von der künftigen Regierung in Afghanistan: halb islamisch, halb kommunistisch. „Dieser Kompromiß ist faul, so faul wie Chamkami selbst.“ Chamkami gilt nämlich bei vielen Afghanen als Inbegriff des bodenlosen Opportunismus. Er war unter König Zahershah Senator, unter Dawud, der die Monarchie abschaffte, Gouverneur der Provinz Loger und unter den Kommunisten Sprecher der Djebhe–e–Pedarwatan (Vaterlandsfront), einer der Regierung nahestehende vermeintliche Massenorganisation mit patriotischem Anspruch. In Verballhornung seines Namens nennt man ihn mittlerweile Kantschami, was auf Persisch „Kuppler“ bedeutet. Doch außer den beiden Fundamentalisten Hekmatyar und Abdulrasul Sayyaf, Chef der Islamischen Einheit für die Freiheit Afghanistans, sind die anderen Führer des Widerstands einer derartigen politischen Lösung - vorausgesetzt die Russen verlassen das Land - nicht gänzlich abgeneigt, wenn sie auch zunächst den Sowjets die kalte Schulter zeigen müssen. Kompromissen nicht abgeneigt Ihre Kompromißbereitschaft indessen kommt nicht von ungefähr. Sie gehen davon aus, daß das dem ewigen Krieg überdrüssige Volk über kurz oder lang sich mit dem Kabuler Regime abfinden würde, wenn nicht bald eine politische Lösung gefunden wird. Besonders die drei als islamisch–moderat bekannten Gruppen sind politischen Kompromissen gegenüber Kabul durchaus aufgeschlossen: die „Islamische Front“ von Said Ahmad Pir Geilani, die „Nationale Front“ von Theologieprofessor Ghiasuddin Modjaddadi und die „Islamische Bewegung“ von dem sunitischen Geistlichen Maulawi Mohammad Nabi Mohammadi, der zur Zeit als Sprecher des Widerstands fungiert. Ihnen schwebt als künftiger Herr in Kabul der ehemalige König Zahershah oder einer seiner Söhne vor. Das gute Verhältnis Zahershahs zur Sowjetunion während seiner Herrschaft macht ihn in den Augen vieler Afghanen zur Schlüsselfigur einer politischen Lösung. „Hätten die Afghanen heute wählen können, so bekäme der König 80 Prozent der Stimmen“, hört man des öfteren unter Mudjaheddins, und das nicht nur in den Kreisen der „Moderaten“. Doch für beide fundamentalistischen Gruppen, die die Errichtung eines islamischen Staats auf ihre Fahnen geschrieben haben, kommt Zahershah als Alternative zur jetzigen Regierung nicht in Frage. „Wir werden“, sagt Hekmatyar, „in der Opposition bleiben, und das Volk steht auf unserer Seite.“ Auf wessen Seite das Volk steht, sei dahingestellt. Eins steht aber fest: Die Aussicht auf eine baldige politische Lösung hat auch an der Front für bessere Stimmung gesorgt. Die Gelassenheit kehrt zurück Im siebten Winter des afghanischen Kriegs zeigen die Mudjaheddin erneut jene zuversichtliche heitere Gelassenheit, die ihnen stets eigen war. Sie diskutieren in ihren Stützpunkten bei unzähligen schwarzen und grünen Tees, wer wohl von den Widerstandsführern der künftigen Regierung angehören wird. Die Kriegsmüdigkeit und Resignation, die noch im Sommer überall bemerkbar war, ist mittlerweile der Hoffnung auf eine bessere Zukunft gewichen. Noch vor ein paar Monaten stand es schlecht um den Widerstand. Die systematischen Bombenangriffe der Sowjets hatten die Mudjaheddin regelrecht in die Enge getrieben, und es sah so aus, als ob dem Widerstand bald die Luft ausgehen würde. Für die bessere Stimmung gibt es außer der politischen Hoffnung einen weiteren Grund: Seit Oktober verfügen die Mudjaheddin über die hochwirksame amerikanische Bodenluftrakete vom Typ Stinger. Diese Rakete, deren Zielvorrichtung im ultravioletten Bereich arbeitet und mithin durch Fackelabwurf oder andere Maßnahmen nicht irritiert wird, kann am besten dem sowjetische Kampfflugzeug SU 24 und dem sowjetischen Kampfhubschrauber Hind Einhalt gebieten. Neues Selbstbewußtsein durch US–Raketen Allein die Islamische Partei soll 40 von 400 in Pakistan gelagerten Raketen erhalten haben. Der Besitz der Stinger, wenn auch über ihre militärische Effektivität im afghanischen Bergland keine Klarheit herrscht, zeigt eine große psychologische Wirkung. Die Mudjaheddin haben nicht mehr das Gefühl, gegen die sowjetischen Bomben machtlos zu sein. Sie sehen bereits alle russischen Flugzeuge an afghanischen Felsen zerschellt. „Seit wir“, sagt ein Kämpfer der Islamischen Partei, der im Trainingslager von den pakistanischen Offizieren den Umgang mit der komplizierten US– Waffe gelernt hat, „die Stinger haben, ist dem Russen bange geworden, und er will schnell nach Hause.“ Ahmad Taheri Der Autor war zuletzt im Dezember 86 im Auftrag der unabhängigen Deutschen Afghanistan–Stiftung in den umkämpften Gebieten