Kalt wie einst im Streikwinter

■ Bundesweiter Stahltag der IG Metall / Kundgebungen während der Arbeitszeit in über 20 Städten / Forderung nach „geordnetem Rückzug“ und Vergesellschaftung der Stahlindustrie

Viele Stahlarbeiter fühlten sich an den legendären „Streikwinter“ von 1978/79 erinnert, als an der Ruhr bei klirrender Kälte erstmals und erfolglos für die 35–Stunden–Woche gestreikt wurde. Zum gestrigen Stahltag versammelten sich an allen bundesdeutschen Stahlstandorten Zehntausende Stahlwerker, um gegen die neuerlich drohende Entlassungswelle in der Stahlbranche zu protestieren. Nach ze aus Betriebsräten und Vertrauensleuten mobilisiert die Belegschaften.

Duisburg/Bochum (taz/ap) - Tausende von Stahlarbeitern haben am Freitag in 24 Städten gegen die drohende Vernichtung von 15.000 bis 20.000 Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie demonstriert. Der Vorsitzende der IG Metall, Franz Steinkühler, verlangte auf der zentralen Kundgebung in Duisburg, die Stahlindustrie zu vergesellschaften und die Strukturkrise demokratisch zu meistern. Er rief erneut Bund, Länder und Unternehmen auf, gemeinsam mit der IG Metall in einem Stahlausschuß dafür zu sorgen, daß die Arbeitsplätze und Standorte erhalten, daß Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden und nicht ganze Regionen veröden. Er kritisierte die abwartende Haltung der Bundesregierung und forderte die Beschäftigten auf, am 25. Januar mit dem Stimmzettel Front gegen die Bonner Politik zu machen. Die Lösung dieser Stahlkrise darf nicht allein dem freien Spiel der Marktkräfte und den Unternehmen überlassen bleiben“, rief Steinkühler aus. „Unsere Alternative zur Kahlschlagsanierung ist die soziale Neuordnung des Stahlsektors und die soziale Sanierung der Stahlreviere.“ Eiseskälte herrscht auf dem zugeschneiten Bochumer Rathaus platz. Trotzdem haben sich über 2.000 Menschen eingefunden, um an der Kundgebung der IG Metall teilzunehmen. Lieber heißen Tee Auf dem Bochumer Rathausplatz sind viele Ausländer dabei. Dichtes Gedränge herrscht um die Stände, an denen heißer Tee und Glühwein ausgeschenkt werden. Flugblätter werden bei dieser Kälte weniger gern angenommen, weil man sich dafür erst umständlich aus dem Handschuh pellen muß. Nah an der Rednertribüne steht eine ganze Abteilung aus der Krupp–Schmiede in dreckigen Arbeitsklamotten samt Schutzhelmen. Nach der Kundgebung werden sie wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgehen, „aber im Moment läuft da nix mehr“, grinst einer. Um ihre Solidarität mit den Stahlarbeitern zu demonstrieren, haben auch viele Beschäftigte anderer Branchen die Arbeit unter brochen und sind zur Kundgebung erschienen. Der 2. Vorsitzende der IG Metall, Karl–Heinz Janzen, argumentiert in Bochum nicht nur „für den Erhalt der Stahlstandorte“, „gegen Konzernwillkür und für mehr Mitbestimmung“, sondern mahnt auch zur „richtigen“ Stimmabgabe am 25. Januar: „Danach soll keiner versuchen, die Gewerkschaften als Reparaturbetrieb für falsches Wählerverhalten zu mißbrauchen.“ In Bochum ist auch Günther Scholz aus Hattingen dabei. Die Stadt Hattingen ist von der Stahlkrise besonders betroffen, denn die Henrichshütte an der Ruhr ist dort die größte Arbeitgeberin. Zwei Hochöfen werden hier demnächst stillgelegt, weitere Rationalisierungsmaßnahmen sollen, nach dem Willen der Henrichshütten–Besitzerin, der Thyssen–AG, folgen. Insgesamt, so fürchtet Günther Scholz, werden in diesem Jahr noch über 500 Arbeitsplätze abgebaut. Hattingen lebt seit 1854 von und mit der Hütte. Zu ihren besten Zeiten, 1962, bot sie 10.603 Menschen Arbeit und Brot. Inzwischen gibt es nur noch rund die Hälfte der Arbeitsplätze in der Henrichshütte. Kaum ne Schnitte Günther Scholz, der „glücklicherweise in einer anderen Branche tätig“ ist, kennt die Sorgen seiner Mitbürger um „Ersatzarbeitsplätze“. „Die haben da kaum ne Schnitte“, vermutet er, „die Hütte hat ihre Machtstellung als größte Steuerzahlerin in der Politik der Stadt immer ausgenützt und dafür gesorgt, daß in Hattingen keine anderen stahlverarbeitenden Betriebe ins Kraut schossen, die ihnen die teuer ausgebildeten Facharbeiter abwerben.“ In Hattingen bietet der Aktionstag aufgrund der brennenden Aktualität des Problems denn auch erheblich mehr Programmpunkte als anderswo: Ab 10.45 Uhr stehen in der Henrichshütte die Räder still. In drei Demonstrationszügen ziehen die Bürger zum Kundgebungsort. Ab 13 Uhr sprechen Otto König, der 1. Bevollmächtigte der IG Metall, Rolf Bäcker, der Betriebsratsvorsitzende der Henrichshütte, Günter Wüllner, der Hattinger Bürgermeister und Rudi Judith, das ehemalige Vorstandsmitglied der IG Metall. Corinna Kawaters