Die Krise ist zurückgekehrt

Berlin (taz) - Fast schien es, als habe das Krisen–Gespenst über den Stahlregionen Europas sich in den letzten Jahren verflüchtigt, als habe sich das kaputte Rückgrat der traditionellen Industrieproduktion in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft wieder gestrafft. Arbed Saarstahl, das höchstsubventionierte Kummerkind der bundesdeutschen Stahlindustrie signalisierte Überlebensoptimismus. Die Belegschaft der Georgsmarienhütte bei Osnabrück, vor zwei Jahren noch gegen die drohende Schließung auf den Straßen,ging wieder ruhig ihrer scheinbar gesicherten Arbeit nach. Und die Dortmunder Westfalenhütte des Hösch–Konzerns schrieb sogar zeitweise wieder schwarze Zahlen. Jetzt stehen die Stahlarbeiter an über 20 Standorten der Bundesrepublik wieder protestierend auf der Straße, sehen sie sich nach zehn Jahren Krise, Arbeitsplatzabbau und Existenzunsicherheit einer neuen Rationalisierungswelle gegenüber, die nach Schätzung der Wirtschaftsvereinigung Eisen– und Stahlindustrie mittelfristig 10.000 bis 15.000 Stahlarbeiter auf die Straße oder in den vorzeitigen Ruhestand versetzen wird. Die Industriegewerkschaft Metall, die gestern die Stahlarbeiter während der Arbeitszeit und trotz klirrender Kälte zu Protestkundgebungen auf die Marktplätze gerufen hat, rechnet mit Schlimmerem: über 20.000 Arbeitsplätze werden nach ihrer Meinung über die Klinge springen, einige Stahlstandorte wie das Saarland oder die Maxhütte in Oberfranken sind insgesamt bedroht mit verhängnisvollen Folgen für die betroffenen Regionen. Denn mittelbar sind nach Meinung der Experten noch einmal mindestens 30.000 Arbeitsplätze von der neuen Schrumpfungswelle beim Stahl bedroht. Kartell geplatzt Ausgelöst wurde die neuerliche Stahlkrise in der EG durch den Beschluß der Europäischen Kommission, das seit 1980 bestehende Zwangskartell Eurofer unter dem Druck weiterhin bestehender Weltüberproduktion zu lockern. Eurofer ist ein Zusammenschluß der wichtigsten europäischen Stahlkonzerne, ein europäisches Stahlkartell also, das zusammen mit der EG–Kommission Produktionsquoten für die einzelnen Konzerne und Mindestpreise festlegt. Auf diese Weise wurde in den letzten Jahren ein kontrollierter Schrumpfungsprozeß zustandegebracht, weitgehend gleichmäßig auf die Konzerne und Regionen verteilt und dem auf seine sozialen Auswirkungen hin unkontrollierbaren Konkurrenzmechanismus entzogen.Immerhin konnte auf diese Weise bis 1985 eine Stabilisierung erreicht werden, die zu konstanten Beschäftigungszahlen und zeitweise gar zu steigenden Produktionsziffern führte. Damit ist es jetzt erst einmal wieder vorbei. Nun zeigt sich, daß nicht die kurzfristige Stabilisierung den Normalzustand auf dem Stahlsektor darstellt, sondern die andauernde Krise.Unmittelbar ausgelöst wurde der neuerliche Krisenschub durch den Dollarverfall, der weltweit das für die Stahlproduktion notwendige Vormaterial verbilligt hat und damit zwar kurzfristig die Ertragslage der europäischen Konzerne verbesserte, gleichzeitig aber auf Grund der künstlich hochgehaltenen Preise ihre Position auf dem Weltmarkt verschlechtert hat. Folge war ein Rückgang der Exportpreise, der die roten Zahlen der Stahlkonzerne wieder steigen ließ. Die Konsequenz der EG– „Kommission waren weitere Produktionseinschränkungen und eine Auflockerung der Preisbindung, um den Konkurrenzdruck zwischen den Konzernen zu verschärfen, d.h. die neuerlich anstehenden Kapazitätsstillegungen über den Marktmechanismus durchzusetzen. In der Ablehnung dieser Strategie sind sich Gewerkschaft und Unternehmer ausnahmsweise einig, denn beide fürchten die Folgen eines hemmungslosen Preiskrieges zwischen den deutschen Konzernen, während die Konkurrenz in den anderen europäischen Ländern sich weitgehend im Staatsbesitz befindet und deshalb weiterhin mit großzügiger Subventionierung durch ihre jeweiligen Regierungen rechnen kann. Wenn schon weiterhin geschrumpft werden müsse, so übereinstimmend die Stahlbarone und die Metallgewerkschafter, dann eben wie in der Vergangenheit regional ausgewogen und vor allem nicht nur in der Bundesrepublik. Die IG Metall will nach Aussagen ihres Vorsitzenden Franz Steinkühler am notwendigen Krisenmangement teilhaben. „Wir strecken unsere Hand zur Zusammenarbeit aus“, meinte er auf der IGM–Stahlkonferenz im Dezember, fügte aber drohend hinzu: „Wer unsere Hand ausschlägt, muß mit harten Reaktionen rechnen“. Wie diese aussehen können, wird auch auf den gestrigen Kundgebungen kaum sichtbar werden. Immerhin ist es das erste Mal, daß die IGM in allen Stahlbetrieben gleichzeitig zu öffentlichen Kundgebungen während der Arbeitszeit aufruft. Die Bereitschaft der Stahlarbeiter, nach jahrelanger Verunsicherung öffentlich Flagge zu zeigen, dürfte in den letzten Wochen auf Grund der Hiobsbotschaften aus Brüssel gewachsen sein. „Geordneter Rückzug“ Um einen „geordneten Rückzug“ aus den Überkapzaitäten zu erreichen, fordert die IG Metall die Fortführung der EG–Stahlmarktordnung, eine Existenzgarantie für Unternehmen und Stahlstandorte und die Verhinderung von Massenentlassungen bei gleichzeitigem Aufbau von Ersatzarbeitsplätzen innerhalb der betroffenen Regionen. Für die Bundesrepublik fordert die Gewerkschaft einen sog. „Stahlausschuß“, bestehend aus Vertretern der Stahlkonzerne, der Gewerkschaften und des Staates, der einen sozial abgefederten Abbau der Stahlkapazitäten gewährleisten soll. Mittel– bis langfristig hält sie eine Vergesellschaftung der Stahlindustrie für notwendig. Solange das nicht erreicht ist, will die Metallgewerkschaft ihre Mitglieder mobilisieren. Auf ihrer Stahlkonferenz im Dezember hat sie einen Aktionsausschuß gegründet, in dem 21 Betriebsräte und ebensoviele Vertrauensleute aus allen bundesdeutschen Stahlwerken ihre Aktionen koordinieren sollen. „Wir dürfen unsere Macht nicht unter Verschluß halten“, meinte ein Betriebsrat aus Duisburg. Martin Kempe