Der Kandidat meldet sich zurück

■ Mit Rau auf Wahlkampftour / „Kämpfen, damit man nicht ohne uns regieren kann“ / Volle Säle und gute Stimmung / Ein Punker für Rau

Von Jakob Sonnenschein

Eine Bierdose fegt über den glatten Hallenboden. Ein Hund hinterher. Gegröle, als das Tier wenig später mit der Alu–Büchse im Maul zurück kommt. Der Hund gehört zu einer Gruppe von Punkern, die in die Ulmer Donauhalle gekommen sind, um den „Laberkopp“ mal aus der Nähe zu sehen. Dann betritt Johannes Rau das Rednerpult und die Geräuschkulisse der Punks geht im Jubel der Rau–Fans unter. Zehn Minuten später, der Hund verfolgt gerade mal wieder eine Dose, sagt Rau, warum er das Schüler–Bafög wieder einführen will: „Weil ich nicht will, daß die Berufsangabe der Eltern auf der Geburtsurkunde des Kindes schon ein Abschlußbericht darüber ist, was aus dem Mädchen oder Jungen mal wird“. Eine Formulierung, die so richtig ins Zentrum der sozialdemokratischen Seele trifft. Ganz gleich in welchem Saal: Ob im bayrischen Kempten oder im niedersächsischen Northeim, an dieser Stelle rühren sich im Publikum alle Hände. Die Überraschung in Ulm: Selbst einige Punks applaudieren und nicht nur bei dieser Passage. Ihre wenig freundlichen Zwischenrufe verstummen und später heißt es: „Er labert zwar, aber einiges war auch ganz gut“. Werden sie ihn wählen? „Nee, die Grünen“, sagt einer, während zwei schwarzbelederte Jünglinge gar nicht zur Urne wollen. Und ihr nicht ganz so wild aussehender Kumpel bekennt: „Ich wähle SPD, obwohl ich den Grünen eigentlich näher stehe“. Wie bitte? Warum nicht die Grünen? „Weil die SPD mit den Grünen nicht kann. Daran zerbrechen die und anders kriegt man die Scheiß– Schwarzen nicht weg“. Das kann man bezweifeln, aber der junge Punk hat - ohne es zu wissen - geradezu idealtypisch auf die anfängliche Wahlkampfstrategie der Rau–Truppe reagiert. Zwischen rot und grün schwankenden Wählern sollte eingehämmert werden, daß Rau über einen Umweg nicht zu haben sei. Motto: „Wer Rau will, muß Rau wählen“. Das ist passe. Wer Rau in diesen Tagen im Sonderzug quer durch die Republik begleitet, wird dieses „geflügelte Wort“ des Nürnberger Parteitages nicht ein einziges Mal hören. „Wir wollen“, so sagt Rau nun bei nahezu jeder Gelegenheit, „daß nicht ohne und nicht gegen die SPD regiert werden kann“. Eine Formel, die den Anhang offenbar befriedigt und die Gegner zum Protest nicht reizt. Das Thema Rot–Grün spielt in den Versammlungen absolut keine Rolle. Vielleicht liegt es an den Umfragen, an der im Unterbewußtsein festgesetzten Gewißheit, daß sich darüber mangels Masse schon lange nicht mehr zu streiten lohnt. Dem Kandidaten tut die Ruhe an dieser Front offenbar gut. Nach dem mißlungenen Auftakt im neuen Jahr in Kassel und einem schwachen Auftritt in Essen ist Rau, da sind sich die begleitenden Journalisten ausnahmsweise mal einig, „wieder da“. Ob in der sozialdemokratischen Diaspora in Ravensburg, oder in München, die SPD–Anhänger mögen inzwischen ihren Kandidaten, fast schon wie in NRW. Während sich in Ulm ein Punker zu Rau bekennt, trifft man vor der Halle in Ravensburg einen Unternehmer aus Wuppertal, der mit einem riesigen roten Laster, dem „Rau–Expreß“, auf eigene Kosten durch die ganze Republik kurvt, um „Bruder Johannes“ zu unterstützen. Den Lastwagen hat ein anderer Wuppertaler Unternehmer, ebenfalls ein Rau–Fan, gespendet. Rau selbst fährt mit der Bahn, „weil bei uns im Regierungsprogramm steht, wertvolle Güter gehören auf die Schiene“. Das stimmt zwar nicht ganz, denn im Regierungsprogramm ist von „gefährlichen Gütern“ die Rede, aber der Kalauer kommt immer gut an. Endlich, so freut sich die Rau– Crew um Wolfgang Clement, gerate der direkte Vergleich Kohl– Rau mehr ins Blickfeld. Wer nichts von den beiden weiß, wer nur beobachtet, wie beide mit „Protestierern“ umgehen, der erfährt eigentlich schon genug. Während Kohl den Unmut seiner Anhänger nutzt, um auch die harmlosesten Zwischenrufer niederzumachen, geht Rau mit seinen Gegnern geradezu sanft um. Bei Pfeifkonzerten von „Junge– Union“–Leuten beruhigt Rau zunächst einmal den eigenen Anhang, bescheinigt dem CDU– Nachwuchs „Tapferkeit“ und bringt dann mit Witz und Ironie die „Jung–Christen“ zum Schweigen. Manche von ihnen applaudieren später gar etwas verlegen. Klare Alternativen Wer in SPD–Wahlveranstaltungen den „Mittelstand“ lobt und gegen Großkonzerne nicht wettert, darf nicht mit Beifall rechnen. Rau weiß das, lobt trotzdem und verzichtet aufs Wettern. Er bringt die Säle nicht - wie Oskar Lafontaine - zum Kochen, aber er bietet der eigenen Klientel genug, um sie jubeln zu lassen. Da mögen linke und liberale Intellektuelle - wie jüngst in der Zeit - den Mangel an programmatischen Alternativen beklagen und sich vom Wahlkampf gelangweilt abwenden, den Besuchern reicht das, was Rau offeriert. Die Änderung des hart umkämpften Streikparagraphen (§ 116) will er rückgängig machen, das Schüler–Bafög wieder einführen, bei der Steuerreform genau umgekehrt wie die Union verfahren - also die Kleinverdiener mehr entlasten als die Großen - , das SDI–Abkommen kündigen und mit dem Ausstieg aus der Kernenergie beginnen. Wackersdorf soll gestoppt, Kalkar eingemottet und die Entspannungspolitik fortgesetzt werden. Keine Alternativen zu Kohl? Wie hoch über den Wolken muß man schweben, um ein solches Urteil zu fällen? In Wahrheit waren die Alternativen in keinem Wahlkampf so klar wie in diesem. Bis in einzelne Projekte hinein schlagen SPD und Grüne genau das Gegenteil von dem vor, was die jetzige Regierung tut. Es mangelt nicht an Alternativen, es mangelt an Zustimmung. Auch wenn die Demoskopen in der letzten Woche eine leichte Besserung für die SPD verkündeten - bei leicht sinkenden Werten für die Grünen -, eine Gefährdung für die Kohl–Genscher–Truppe scheint nahezu ausgeschlossen. Für den Kandidaten Rau lohnt sich der unbändige Einsatz gleichwohl. Erzielt er ein achtbares Ergebnis im Bund - 38 plus X - und liegen die Zahlen in NRW zudem deutlich höher, hat er gute Karten beim Kampf um den zukünftigen Kurs der SPD. Am 26.1. beginnt der Tanz und die „NRWlinge“ sind fest entschlossen, sich lauthals einzumischen. Bis dahin herrscht öffentlich Friede, auch zwischen Brandt und Rau, die noch am Donnerstag - wenn auch sichtlich gequält - in Braunschweig zusammen Wahlkampf machten. Für den Kandidaten, der zwei Stunden später im Sonderzug seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag feierte, hatte Brandt nicht ein einziges aufmunterndes Wort übrig. Lob fand Brandt dagegen für einen anderen: „Ich möchtes es nicht versäumen“, so der SPD– Vorsitzende, „wie sehr ich mich darüber freue, daß Braunschweig wieder einen sozialdemokratischen Oberbürgermeister hat“. Gerhard Glogowski heißt der Mann, gewählt von einer rot–grünen Mehrheit.