Allah gegen Atatürk

■ Am Wochenende kam der in der Türkei seit längerem schwelende Konflikt zwischen islamischen Fundamentalisten und laizistischem Staat offen zum Ausbruch / Aus Istanbul Ömer Seven

Was Istanbuler Intellektuelle seit gut zwei Jahren befürchtet hatten - am letzten Wochenende wurde es Realität. Tiefverschleierte Frauen, angeführt von männlichen Islam–Fanatikern, stürmten in mehreren Städten der Türkei die Plätze und forderten lauthals die Abschaffung des Laizismus und die Einführung des islamischen Rechts. Die türkische Republik hat dem wenig entgegenzusetzen: Der Geist Atatürks, die Orientierung der Türkei nach Westen, ist durch die Militärs desavouiert, und die Linken sitzen m Knast oder wurden ins Ausland vertrieben. Die Militärs stehen dem hilflos gegenüber.

Der Generalsekretär der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP), Saglan, hatte sich zu Tode erschreckt. „Das war doch die Generalprobe zum heiligen Krieg.“ Quasi über Nacht waren die Straßenbilder aus Teheran in der Metropole am Bosporus Wirklichkeit geworden: Bärtige Mullahs in Drohgebärde, die rechte Faust erhoben, hatten Seite an Seite mit kopftuchtragenden, tief verschleierten Frauen nach dem Freitagsgebet zu Tausenden das Istanbuler Verlagsviertel in der Nähe der Hagia Sophia in Beschlag genommen. Stürmisch gefeiert von seinem Anhang konnte der frühere Chef der verbotenen „Nationalen Heilspartei“, der eigentlich mit Politikverbot belegte Necmettin Erbakan, die Verwestlichung der türkischen Politik anprangern. So rief er zu einer Kampagne gegen einen EG–Beitritt der Türkei auf, der das land zu einem „Sklaven Europas machen würde“ und forderte statt dessen die Bildung eines Islamischen Gemeinsamen Marktes. Überhaupt, so Erbakan, sei der „Kopftuch–Erlaß“ nur der Versuch, davon abzulenken, daß das Land an die Ungläubigen ausgeliefert würde. Die Ereignisse am letzten Freitag in Istanbul waren nur der Gipfel einer Reihe von landesweiten Protesten gegen die Entscheidung der Universitätsverwaltungen, bei Lehrveranstaltungen und Prüfungen ein Kopftuchverbot zu erlassen. Provokateure am Werk Die Opposition macht die Regierungspartei und Ministerpräsident Özal für die Ereignisse verantwortlich und fordert die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Die Regierung habe in der Vergangenheit die islamischen Fundamentalisten in ihren anti–laizistischen Bestrebungen ermuntert, betonen die Sozialdemokraten. Die Regierung Özal versucht unterdessen, die Geschehnisse herunterzuspielen. Einzelne Provokateure seien am Werk gewe sen, betonte Innenminister Akbulut. Gleichzeitig bestellte Özal den iranischen Botschafter zu sich, wohl um ihn zu schelten. Bei zwei verhafteten Anführern des Auflaufs am Freitag soll es sich um iranische Agenten handeln. Seit Wochen ermuntert das Teheraner Radio die Gesinnungsgenossen im Nachbarland, gegen die Ungläubigen vorzugehen. In der heiligen Stadt Chom hatten Khomeinis Mullahs gar eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der die säkulare Verfassung der Türkei angegriffen wird. Die Rede des Ex–Putschisten und jetzigen Staatspräsidenten Evren in Adana, wo dieser zu einem offensiven Vorgehen gegen die islamischen Fundamentalisten aufrief, war ebenfalls Angriffsobjekt der islamischen Ideologie–Exporteure aus dem Iran. Evren hat unterdessen seinen geplanten Staatsbesuch im Iran abgesagt. Darüber hinaus plant der Staatspräsident, in kürze gemeinsam mit dem Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien ein Briefing zum islamischen Fundamentalismus abzuhalten, um sich gegen die kommenden Gefahren besser zu wappnen. Protest geht weiter Unterdessen setzen in der gesamten Türkei die islamisch–fundamentalistischen Studenten ihre Protestaktionen fort. Die theokratischen Kräfte und nicht die Linke sind somit die ersten nach dem Militärputsch 1980, die stark genug sind, offen die Konfrontation mit der Staatsgewalt zu suchen.