Sturm der Frommen auf den laizistischen Staat

„Allah hat seine Macht gezeigt“, so triumphierten die Frommen am Montag in Istanbul, „jetzt geht es erst richtig los.“ Die Kopftuchverfügung der Universitätsverwaltungen - Ausgangspunkt des jetzt entbrannten innenpolitischen Feuers - war für die islamischen Fundamentalisten nur ein willkommener Anlaß, als eigenständige politische Kraft in die Öffentlichkeit zu treten. Während ein Teil der Bewegung sich als politische Partei konstituiert hat und die Wohlfahrtspartei bildet, ist ein Großteil in geheimen Sekten organisiert, die über diverse Parteien ihren Einfluß geltend machen. Trotz erheblicher strategischer und taktischer Differenzen - zum Beispiel um das Ausmaß von Zugeständnissen, wenn Sektenanhänger in Staatsfunktionen wirken (darf man ein Atatürk–Portrait aufhängen?) - sind sie, wie die vergangenen Wochen beweisen, gemeinsam handlungsfähig. Ganz im Sinne Khomeinis streben sie eine nach dem islamischen Recht Scharia gestaltete Wirtschafts– und Sozialordnung an. Die kemalistischen Reformen des Republikgründers Atatürk, insbesondere der verfassungsrechtlich verbriefte Laizismus, die Trennung zwischen Staat und Religion, sind Haupthindernisse auf dem Wege zur theokratischen Kontrolle aller Lebensbereiche. Mittlerweile zählen die im Untergrund tätigen Sekten mehrere hunderttausend Anhänger. Die Sekte des Saidi Nursi, die in der regierenden Mutterlandspartei wirkenden Naksibendi und die Suleymanisten sind die einflußreichsten, angeführt von selbsternannten Sheiks, deren Feindschaft gegen den Kemalismus sie zusammenführt. Von Khomeini trennt sie ihre sunnitische Ausrichtung und ihre Sympathie für das von der türkischen Nationalversammlung 1924 abgeschaffte Kalifat. Nährboden vorbereitet Das Militärregime nach 1980 war es, welches den islamischen Fundamentalisten mit der Zerschlagung aller demokratischen und linken Organisationsansätze, die vor dem Putsch die gesell schaftliche Dynamik bestimmten, den idealen Nährboden lieferte. Zwar wurde, wie alle anderen Parteien auch, die Islamische Nationale Heilspartei Erbakans verboten. Die Basiszellen der Fundamentalisten wurden indes durch Maßnahmen des Militärregimes gestärkt. Es waren die Militärs, die die Volkshäuser, eine dem Laizismus verschriebene Institution des Kemalismus, verboten. Ebenso waren es die Militärs, die an Grund– und Mittelschulen zwangsweise Religionsunterricht einführten. In der Zeit des Mil Geister, die sie riefen... Nun plagen die Militärs die Geister, die sie gerufen. Zur Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates, dem institionalisierten Kontrollorgan der Putschisten, ließ sich Evren von seinem Geheimdienst einen jüngst veröffentlichten Bericht über Aktivitäten der Fundamentalisten vorlegen. Die islamischen Sekten seien gefährlicher als Kommunisten, da sie über eine große Basis verfügten, die jederzeit in Bewegung gesetzt werden könne, meinten die Geheimdienstler. Sie seien in allen 67 Provinzen der Türkei organisiert und würden mit Geldern aus dem Iran unterstützt, die, getarnt über Ex– und Importfirmen, ins Land kommen. Bereits heute sei es ihnen gelungen, ihre Anhänger in Schlüsselpositionen des Militär– und Polizeiapparats einzuschleusen. Im Dezember waren 66 Offiziersschüler wegen geheimer Mitgliedschaft in der Sekte der Fetullah aus den Militärakademien entlassen worden. Der Geheimdienstbericht hat Evren wohl gepeinigt, im Anschluß daran hielt er seine aufsehenerregende Rede in Adana, wo das Kopftuch und der Turban verdammt wurden. Nachdem die von den Gnaden der Militärs abhängigen Universitätsverwaltungen prompt mit Hausverbot für Kopftuch tragende Studentinnen reagiert hatten, war der Konflikt, der in den Ausschreitungen vom Wochenende vorläufig gipfelte, vorprogrammiert. Özal in Bedrängnis Der Regierung Özal kommt das Kopftuchverbot und die eigenständige Formierung der Fundamentalisten im Zuge des Konflikts höchst ungelegen. Özal, einst selbst Mitglied der Nationalen Heilspartei, hat einen Teil der muslimischen Politkader in seine Mutterlandspartei integriert und ist ihnen immer entgegengekommen. Islamische Solidar–Ideologie war gedacht als Auffangbecken für die im Prozeß neoliberaler Wirtschaftspolitik Verelendeten. Das Pornographiegesetz entsprach ganz dem Geschmack seiner Basis. Mit gewaltigen Etatmitteln hat Özal in seiner Amtszeit die Religionsschulen aufgebläht, 231.000 Schüler zählen sie gegenwärtig, 1989 sollen es über 300.000 Schüler werden. So war es selbstverständlich, daß Özal den kopftuchtragenden, protestierenden Studentinnen in Vergangenheit Honig um den Mund schmierte und das Kopftuch verteidigte, während er seine Abgeordneten gegen die TV–Reklame von OB–Tampons losließ. Mit den Drohgebärden der Militärs auf der einen Seite und mit der eigenständigen Formierung der theokratischen Kräfte - auch außerhalb der Mutterlandspartei - wie bei den Demonstrationen am Wochenende auf der anderen Seite, muß Özal nun einen heiklen Seiltanz vollführen. Mit beiden darf er es zum eigenen leidlichen Wohl nicht verderben. Der allzu lockere Lebenswandel des liberalen Flügels in der Mutterlandspartei ist den Frommen eh ein Dorn im Auge. Zwei turbantragende Jugendliche, die am Wochenende mit Molotow– Cocktails zwei Parfümerien in Brand steckten, hinterließen wichtige Botschaften: „Wenn unsere Schwestern sich nicht verschleiern dürfen, sollen eure Mätressen sich nicht fein machen können.“