Lenins Kritik an Stalin veröffentlicht

■ Die Moskauer Nachrichten veröffentlichen Auszüge aus dem „Politischen Testament“ Lenins / Gründer des Sowjetstaates warnte vor seinem Nachfolger Stalin / Veröffentlichung kann Indiz für Veränderungen in der sowjetischen Geschichtsschreibung sein

Moskau (afp/taz) - Erstmals seit der Stalin–Ära hat eine sowjetische Zeitschrift in der vergangenen Woche über den Versuch des damals schon todkranken Lenin berichtet, Stalins Position in der Bolschewistischen Partei anzugreifen und ihn aus dem Amt des Generalsekretärs zu verdrängen. Die in Russisch und verschiedenen Fremdsprachen erscheinende Wochenzeitschrift „Moskauer Nachrichten“ veröffentlichte Auszüge aus dem später als „politisches Testament“ zirkulierenden Schriftstück, das Lenin kurz vor seinem Tod unter dem Titel „Brief an den Parteitag“ diktiert hatte. Die Moskauer Nachrichten zitieren den Brief, in dem es heißt, „Genosse Stalin“ habe in seinen Händen eine unbeschränkte Macht konzentriert. „Stalin ist zu brutal“, schrieb Lenin ferner, „und dieser Mangel...kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte...“ Aus den der taz vorliegenden Agenturberichten ist nicht ersichtlich, ob die explizite Nennung von Trotzki in dem Brief Lenins nun auch der sowjetischen Öffentlichkeit in der Zeitung zugänglich gemacht worden ist. Der „Brief an den Parteitag“ wurde in der UdSSR 1956 zum ersten Mal in der Zeitschrift Kommunist (Nr.9) veröffentlicht und ist auch später in den Gesammelten Werken Lenins enthalten gewesen. Kritik brachten die Moskauer Nachrichten auch an der Haltung Stalins zur Nationalitätenfrage. Der Nachfolger Lenins befürwortete die Einverleibung der unabhängigen Sowjetrepubliken in Rußland. Lenin warnte dagegen, dies würde den Nationalismus anfachen. Auch hier zitierte das Blatt Lenin: „Ich glaube, daß in dieser Frage die Hast Stalins und seine Neigung zum Administrativen eine fatale Rolle gespielt haben.“ Gerade die Bezugnahme auf die Nationalitätenfrage gewinnt angesichts der nationalistischen Unruhen in Kasachstan im Dezember an aktueller Bedeutung. Die Veröffentlichung der Zitate zeigt einen Umschwung der jetzigen Führung gegenüber dem Geschichtsbild, das auch in der Gorbatschow–Ära von „Väterchen Stalin“ verbreitet wurde, auf. Noch am 8. Mai 1985 hatte Gorbatschow eine Lobrede auf die militärischen Leistungen des Diktators im II. Weltkrieg gehalten. In den letzten Monaten ist aber die Kritik an Stalin immer lauter geworden. In einem Interview in der Wochenzeitschrift Ogonjok (Fanal) im Dezember wurde ein bisher unveröffentlichtes Interview mit dem ehemaligen Sowjetmarschall und Generalstabschefs im Krieg, Georgij Schukow, abgedruckt, in dem der General mit Stalin ins Gericht ging. Er kritisierte die massiven Säuberungsaktionen, denen am Anfang des Krieges ein großer Teil des Offizierscorps zum Opfer fiel, und machte Stalin für die militärischen Rückschläge verantwortlich. Er selbst sei 1937 und 1947 nur knapp der Liquidierung entgangen. Auch in der Literatur und im Film werden die Verbrechen Stalins immer offener angegriffen. Der Ende des Monats anlaufende Film „Reue“ des Georgiers Tengis Abuladse und der nun gelobte und zwanzig Jahre lang unterdrückte Roman „Neue Zuteilung“ von Alexander Bek zeugen von dieser neuen Tendenz. er