Ökologie als Alibi oder „Biotope am Tropf“

■ Braunkohletagebau im Rheinischen: Ein Vierteljahrhundert lang gräbt sich die RWE–Tochter Rheinbau durch die Landschaft / Unabsehbare ökologische Schäden

Von Bernd Müllender

Es war vor gut einem Jahr in einem Seminar für Bergbau–Ingenieure an der Technischen Hochschule (TH) Aachen: Dozent Dr. Stoll sprach über die Zukunft des Braunkohletagebaus. Die Studenten dösten vor sich hin, einer aber war hellwach. Was Stoll da von sich gab, das war doch neu, höchst brisant. Kein Wunder, der ehrgeizige Doktor, der den vakanten Lehrstuhl bald als Professor bekleiden möchte, war gerade dabei, Braunkohle–Gutachten für die SPD–Landesregierung zu fertigen. Parallel zu Stolls Arbeit begannen nun „Brownpeace“–Initiativen sich für das Treiben des TH–Doktors zu interessieren. Seit dem Herbst nun sind Stolls und einige andere Gutachten fertig. Sie sollten jedoch in den ministeriellen Schubladen liegen bleiben, weil sich die SPD–Landesregierung vor der Wahl an der umstrittenen Braunkohle nicht die Finger verbrennen wollte. Doch die Aachener „Hambach– Gruppe“, eine Bürgerinitiative der Region, hatte sich die Gutachten längst über viele inoffizielle Wege beschafft. Die Ergebnisse zeigen in eklatanter Weise die Unvereinbarkeit der Rau–SPD und ernsthafter Umweltpolitik. Seit Anfang der fünfziger Jahre wurde im rheinischen Tagebaurevier zwischen Aachen, Mönchengladbach und Bonn in großem Stil nach Braunkohle gebuddelt. Ganze Landstriche wurden seither von gigantischen Schaufelrad baggern zerwühlt - bis heute sind mehr als 20.000 Menschen zwangsumgesiedelt worden - Löcher bis zu 500 Metern Tiefe gegraben, künstliche Abraumgebirge geschaffen. Gefördert werden ca. 120 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr. Das Grundwasser sinkt, die ursprüngliche Landschaft verschwindet, Biotope sind gefährdet - aber die ökologischen Schäden wurden und werden heruntergespielt. 1984 schien das zunächst grundlegend anders zu werden. Die nordrhein–westfälische Landesregierung und ihr Umweltminister Klaus Matthiesen ließen aufhorchen, als sie ein neues, grundlegendes „Untersuchungsprogramm Braunkohle“ in Angriff nahmen. Gleichzeitig wurde vom Abbau–Giganten Rheinbau, einer RWE–Tochter, verlangt, für die Zukunft ein „ökologisches Anforderungsprofil“ vorzulegen. Die SPD des Landesvaters Johannes Rau verkaufte sich mit einem guten Dutzend neuer Gutachten als Umweltpartei. Zentrale Bedeutung kommt dabei den Erkenntnissen des Gutachters Dr. Stoll zu: Er wartet mit Vorschlägen auf, die weit über das hinausgehen, was bislang bekannt und geplant war. Die schlimmen ökologischen Folgen des Tagebaus im Gebiet Frimmersdorf, wo es schon zu erheblichen Grundwasserabsenkungen und einer akuten Bedrohung des Naturparks Schwalm–Nette kam, ließen sich, so Stoll, bewältigen: Spund– und Dichtwände sollen die Landschaft ringsum versiegeln, selbst ein ergänzendes Vereisen der Wände hat er wohlwollend geprüft. Nur sei dies leider zu teuer. Überzeugt von seinen technischen Vorschlägen (einzelne Dichtwandkonstruktionen mit gleichzeitigem Auffüllen des ablaufenden Wassers), macht sich Stoll stark für den umstrittenen und bis heute noch nicht genehmigten Anschluß–Tagebau „Frimmersdorf–West– West“ bis an die Stadtgrenze von Erkelenz. Zudem will er das schon angebaggerte Gebiet Frimmersdorf nochmals um satte 30 Prozent vergrößern. Nur so sei schließlich „eine volkswirtschaftlich gebotene, möglichst vollständige Nutzung der Lagerstätte und der bereits bestehenden Entwässerung“ möglich. Soll heißen: Ist die Landschaft erst ruiniert, gräbt sichs völlig ungeniert. Andernfalls sei das Gebiet als Energiespender „für immer verloren“. Andere Gutachten auf der Grundlage sehr theoretischer und somit zweifelhafter Computersimulationen können die Denkrichtung von Stoll bestätigen. Ein passendes Ergänzungsgutachten hat Rheinbraun selbst in Auftrag gegeben: falls das Grundwasser trotz aller Wände doch sinkt, will man versuchen, das abgepumpte Tiefenwasser aus dem Tagebau in den Naturpark zu leiten. Genial einfach, dabei bleiben jedoch, so die Kritiker der Hambach–Ingenieure, die simpelsten ökologischen Zusammenhänge außer acht. Wasser aus mehreren hundert Meter Tiefe ist zwar weitge hend unbelastet, transportiert jedoch Salze, die im oberirdischen Ökosystem in solchen Mengen nicht vorkommen. Die Folge wäre, wenn es überhaupt funktionierte, eine schnelle Änderung der Flora - weg von den seltenen Bruchwaldgebieten hin zuum Allerweltsgestrüpp. Knapper Kommentar der „Hambach–Gruppe“: „Biotope am Tropf“. Allerdings gibt es auch kritischere Gutachter zu den technischen Lösungen der Grundwasserprobleme. Doch Stoll hat mit seiner „zusätzlichen Alternative“ einen Knüller parat: Damit „weitere heimische Reserven genutzt und Arbeitsplätze geschaffen werden“, empfiehlt er der Landesregierung ein völlig neues Gebiet im Süden des Reviers: 2,8 Milliarden Tonnen Kohle, genug für weitere 25 Jahre. Weichen müßten der Teil eines Naturparks und einige tausend Menschen in vierzig Dörfern und Weilern, die bislang kaum etwas von ihrer möglichen Vertreibung ahnen. Rheinbraun darf sich freuen: es kommt möglicherweise nur auf die Reihenfolge des Abbaus an. Steht Frimmersdorf–West–West erst an zweiter Stelle, hätten allerdings die Grundstücksspekulanten im Raum Erkelenz das nachsehen. Auch das ist nämlich eine der sozialen Folgen der Braunkohleförderung: Schon auf Jahre im voraus wechseln ganze Dörfer die Eigentümer. Rau, Matthiesen & Co. indes sind mit dieser raffiniert zusammengestellten Gutachterauswahl und Ergebniskombination fein heraus. Ob Lets go West–West oder South, im bevorstehenden Landesentwicklungsplan V lassen sich alle Alternativen rechtfertigen. Wenn sich die SPD–Regierung in Düsseldorf an die Gesamtaussagen der Gutachten hält, ist ihr „ökologisches Anforderungsprofil“ nichts als Kosmetik: „Ökologie als Alibi“ bescheinigt ihr die Hambach–Gruppe und: „Opportunismus als Prämisse“ in einer Zeit der Umweltsensibilisierung: „Der enorme Landschaftsverbrauch wird weitergehen.“ Die Vorgabe der Energieprogramme von Bund und Land, jährlich 120 Millionen Tonnen zu baggern, bleibt unangetastet. Ein Ausstieg kommt nicht in Frage, auf eine vor einigen Jahren von der Landesregierung angekündigte Studie zur Sozialverträglichkeit der Umsiedlungen wird weiterhin verzichtet. Zur umfassenden Information über den „Braunkohletagebau und seine Folgen“ gibt es ein ebenso detailliertes wie spannendes Buch mit beeindruckenden Bildern: Verheizte Heimat, herausgegeben von der „Hambach–Gruppe“, Alano–Verlag, Aachen 1985, Preis DM 26.