Grüne Straßburg–Abgeordnete bleiben sitzen

■ Die Grünen–Abgeordneten im Europäischen Parlament wollen bis auf zwei nichts mehr von Rotation wissen / In den Start– löchern hockende Nachrücker schlagen in einem internen Brief Alarm / Unmut über „Wortbruch“ und „politische Unkultur“

Aus Straßburg Thomas Scheuer

Von „Dreistigkeit“ und „Anmaßung“ ist in einem Brief von Grünen–Nachrückern ins Europaparlament (EP) die Rede, „politischer Widerstand“ wird angekündigt. Adressat des bitterbösen Schreibens, das unter den Grünen kursiert, ist jedoch nicht die politische Konkurrenz, sondern das eigene Personal: Bei den Grünen im EP herrscht wieder einmal Stunk, weil die Mehrzahl der Abgeordneten den vereinbarten Rotationsvollzug eigenmächtig ausgesetzt hat. Vor allem die Nachrücker, die ihre Felle des ersehnten Abgeordneten–Status davonschwimmen sehen, sind sauer und schlagen auf der Prinzipientrommel Alarm. Auf dem Europa–Parteitag der Grünen im Frühjahr 1984 in Karlsruhe verpflichtete eine klare Mehrheit die zukünftigen Euro– Mandatsträger zur Rotation nach der Hälfte der fünfjährigen EP– Legislaturperiode. Die Kandidaten gelobten Vollzug. Sieben westdeutsche Grüne zogen nach den Europa–Wahlen im Juni 84 in die Straßburger Versammlung ein und bildeten dort mit Gesinnungsgenossen anderer Länder das Grün–Alternative Bündnis (Green–Alternativ European Link = GRAEL) innerhalb der 20köpfigen Regenbogen–Fraktion. Immer wieder klagen Fraktionskollegen aus kleineren Ländern seither, daß die Querelen innerhalb der - zahlenmäßig dominierenden - siebenköpfigen Gruppe der westdeutschen Grünen zum beständigsten Klima–Faktor wurden. Gleich im Herbst 84 sorgte Michael Klöckner mit seiner For derung nach einem autonomen Status samt einem erklecklichen Anteil an der Fraktionsknete für ersten Wirbel. Und auch nach zweieinhalb Jahren des Zusammenraufens ist die Grünen–Euro– Gang immer noch eine Ansammlung vor sich hinwurstelnder Einzelkämpfer. Beklagt wird der Mangel an inhaltlicher Auseinandersetzung. Auf mancher Fraktionssitzung beendet nur der Dienstschluß der Dolmetscher die heftigen Gefechte auf technischen, formalen oder persönlichen Nebenkriegsschauplätzen. Nun beschert der kalte Kaffee von gestern - auf Landes– und Bundesebene ist die Rotation längst kein Thema mehr - den Euro–Grünen einen zeitverschobenen Aufguß: Nur zwei Abgeordnete, Dorothee Piermont und Frank Schwalba–Hoth, wollen vereinbarungsgemäß noch diesen Monat ihre Straßburger Sessel räumen. Brigitte Heinrich hat plötzlich entdeckt, daß eine Total– Rotation eine reine Männer–Riege im EP zurückließe, wodurch das Quotierungsprinzip der Grünen Schaden litte. Da zwei Nachrücker mittlerweile in Straßburg gekündigt haben, bestünde tatsächlich für zwei Vorrückerinnen die Möglichkeit des Verbleibens. Als eine davon hat sich Brigitte Heinrich ohne jede Diskussion auserkoren. Die Anti–Atom–Kämpferin Undine Bloch von Blottnitz will ebenfalls bleiben - ihre Basis, der Kreisverband Lüchow– Dannenberg, wolle das so. Auch der Berliner Benny Härlin, dem die Grünen zusammen mit Michael Klöckner nach deren Verurteilung im radikal–Prozeß durch sichere Listenplätze „politisches Asyl“ im europäischen Wanderzirkus verschafften, scheint Gefallen an der europäischen Polit– Szene gefunden zu haben. „Nach ein paar schlaflosen Nächten und vielen Gesprächen“, so Härlin in einem Brief an den Bundesvorstand, „bin ich zu dem Schluß gekommen, daß ich nicht im Februar 1987 rotieren möchte.“ Sein Parlamentskollege Klöckner gibt sich vollautonom: Bleibt Benny, will er auch bleiben. Der ehemalige Spitzenkandidat der Grünen, der Agrarexperte Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Spitzname „Friwi“, scheint rotationswillig, macht sich aber Sorgen um die zukünftige Repräsentation grüner Agrarpolitik in Straßburg: Sollte Friwi rotieren, das Nachrücken des Agrarfachmannes Egbert Nitsch aber durch die Seßhaftigkeit anderer Vorrücker blockiert werden, dann bleibe die Gruppe ausgerechnet im EG–Bauchschmerz–Bereich landwirtschaftsexpertenlos. Aus Rücksicht auf die Bundestagswahl hielten die Nachrücker bislang mit ihrem Unmut über den „Wortbruch“ und die „politische Unkultur“ unter der Decke. Nachdem sie nun ihr Leid brieflich der Bonner Parteispitze geklagt haben, forderte der Bundeshauptausschuß auf seiner Sitzung am letzten Sonntag prompt die grünen Euro–Parlamentarier einstimmig auf, „die Rotationsfrage im Einklang mit den Beschlüssen der Partei zu regeln“. Die Mandatsträger wollen sich zunächst zur Klausurtagung zurückziehen - im Februar, nach der Wahl.