K O M M E N T A R Fliegender Generationswechsel

■ Vortreten der Brandt–Enkel, Zurücktreten von Rau

Zu dem symbolischen Wahlkampftrödel gehörte bei der SPD auch der rote Haken, so eine Mischung zwischen dem V–(Sieg–) Zeichen und dem Okay. Jetzt, einen Tag nach der Wahl, kann er eine neue Bedeutung haben: abgehakt. Abgehakt ist offenbar der Incubus von der „eigenen Mehrheit“ und zwar a tempo. Möglicherweise versucht die sozialdemokratische Parteiführung, durch Schnelligkeit die drohenden Widersprüche in der Partei zu überrennen - jedenfalls frappiert das Tempo. Sofort nach der Wahl trat die Troika Brandt, Vogel, Rau zusammen und verkündete als Ergebnis: nunmehr werde die Auseinandersetzung mit den Grünen gesucht. Es waren die Enkel Lafontaine, Schröder, Wiezcorek–Zeul, die verkündeten, ab sofort müsse ein rot– grüne Koalition Thema für die Partei sein. Schließlich hat dann Rau selbst auf den Parteivorsitz verzichtet. Das sieht ganz nach einem fliegenden Generationswechsel aus, durch den kaum noch Zeit ist, eine verfehlte Wahlkampfstrategie zu kritisieren, weil sie damit schon ad acta gelegt ist. Ein bißchen scheint die SPD jetzt nach der Methode der fünf nackten Matrosen von Ringelnatz zu verfahren, die durch Schnelligkeit ihre Blöße verdecken. Die Schnelligkeit und die Glätte, mit der die SPD die politische Korrektur sowohl als auch den Generationswechsel einleitet, kommt nicht von ungefähr. Das war schon im Wahlkampf angelegt. Die ständige abstrakte Negation einer rot–grünen Koalition hat mehr als die CDU–Propaganda vom drohenden Chaos das rot–grüne Gespenst herbeigezaubert. Das Koalitionstrauma, mit dem die Grünen sich gequält haben, hat niemand anderes als Rau dauerhaft ins Fleisch der Sozialdemokratie eingesetzt. Schon vor der letzten Wahlkampfphase stand fest, daß sich die Partei von der Rau–Linie nicht überzeugen läßt. Und die letzte Wahlkampfphase selbst war im Grunde schon die praktizierte Ablösung von Rau: die sozialdemokratische Disziplin bewährte sich unter der Maxime, daß die Strategie der „eigenen Mehrheit“ gescheitert, abgehakt ist; daß es um ein achtbares Ergebnis in der Niederlage gehe. Dennoch bedarf es kaum der Prophetie, daß die SPD dieses Tempo der Revision nicht wird durchhalten können. Daß die Möglichkeit einer rot–grünen Koalition nicht ausgeschlossen werden darf, gehört jetzt, nachdem die Grünen sich geradezu auf einer stabilisierten Stammwählerschaft ausruhen können, nachgerade zur politischen Banalität. Ideologisch ist die SPD auf die Koalitionsthematik denkbar schlecht vorbereitet. Die „linken“ Beschlüsse vom Nürnberger Parteitag sind genau genommen Formelkompromisse zwischen den Flügeln. Bei allen Beschlüssen von der Energiepolitik bis zur Friedenspolitik wurde die Frage der Durchsetzungsstrategien bewußt ausgeklammert. Zwischen dem sozialdemokratischen Konsensreformismus und dem grünen Sofortreformismus gibt es genug Material für gehässige Prinzipientreue. Dennoch: sollte sich die SPD auf einen ernsthaften Streit mit den Grünen über die Koalitionsfrage einlassen, werden die Grünen nicht mehr lange in aller Ruhe ihren Erfolg genießen können. Ihr radikales „Sofort“ lebte vom Immobilismus der SPD. Gleichzeitig steht aber fest, daß die abstrakte Negation der rot–grünen Koalition nicht einfach durch ein ebenso abstraktes Votum für eine solche Koalition aufgehoben werden kann. Nicht eine Koalitionsdebatte überhaupt, sondern konkrete Entscheidungen stehen an: Die hessische SPD muß sich über die Stegersche Politik gegenüber den Atomfabriken von Hanau entscheiden; die Hamburger SPD kann ohne eine massive Korrektur sich nicht mehr in Neuwahlen flüchten. Der Versuch, durch Beschleunigung drohende zentrifugale Tendenzen innerhalb der SPD abzufangen, wird nur dann erfolgreich sein, wenn die anstehenden Entscheidungen in den Ländern ebenso schnell erfolgen. Klaus Hartung