Grüne Mitte oder radikale Minderheit

■ Bei ihrer ersten Fraktionssitzung debattierten alte und neue grüne Abgeordnete das Wahlergebnis / Grüne Identitätsstifter gesucht / Frage nach rot–grünen Bündnissen nicht mehr nur an die SPD gestellt

Aus Bonn Oliver Tolmein

Ihre erste Sitzung hielt die neue grüne Bundestagsfraktion gestern vormittag noch mit der alten gemeinsam ab. Thema der ersten Stunden der bis in den Abend hinein dauernden Sitzung war das Wahlergebnis. Lukas Beckmann, der als Mitglied des Bundesvorstands um eine Einschätzung gebeten wurde, strich heraus, daß nach diesem Wahlergebnis die Grünen Rücksichten auf Wähler nehmen müßten, die über das Stammwählerpotential hinausgehen. Konkret müsse man sich fragen, ob das den Grünen aufgedrückte Etikett „links von der SPD“ deshalb so akzeptiert werden könne. Kennzeichnend für ökologische Politik sei eher das Querdenken. Wie schon am Wahlabend betonte Beckmann auch auf der Fraktionssitzung, daß für grüne Politik auch Grundtendenzen des Christentums aufgegriffen werden müßten. Diese Orientierung wurde von dem neu in den Bundestag gekommenen bayerischen Abgeordneten Gerald Häfner ausdrücklich begrüßt. Christentum sei etwas anderes, das müsse klar gemacht werden, als was die Parteien mit dem großen C politisch praktizierten. Häfner, der auf die Bedeutung von Begriffsbesetzungen durch „Geißler und Co“ hinwies, sprach sich auch dafür aus, der „nationalen Identitäts“–Kampagne der Rechten eine eigene grüne Identitätsstiftung entgegenzustellen. Ansätze dafür gäbe es in der deutschen Geschichte genug. Es reiche nicht aus, immer nur zu entlarven. In diese Kerbe hieb auch Schily, der forderte, die Grünen müßten sich als die Partei der Mitte zu erkennen geben. Eine Partei wie die FDP dagegen sei eine kapitalistisch–extremistische Randgruppe. Dagegen setzte Petra Kelly, nachdem sie das Fehlen der „schönen, großen Sonnenblumen“ auf den grünen Wahlplakaten bedauert hatte, ihre Einschätzung: „Wir bleiben eine radikale Minderheit. Mit der Mitte, wie sie hier in diesem Land existiert, haben wir nichts zu tun.“ Andere Exponenten der Fundi–, Realo– und verschiedener Zwischenpositionen ließen es aber nicht auf einen direkten Schlagabtausch ankommen. Stärker betont als die Rolle der ver schiedenen Flügel für das Wahlergebnis wurde die Tatsache, daß die Grünen in vielen Wahlkreisen mehr Erst– als Zweitstimmen erhalten haben. Wilhelm Knabe aus Nordrhein–Westfalen bewertete das, wie nach ihm andere Rednerinnen, als Anzeichen dafür, daß sich eine grüne Identität unabhängig von der SPD herausgebildet habe. Dennoch pflichteten die meisten Fraktionsmitglieder Antje Vollmer bei, als sie darauf hinwies, daß eine andere SPD– Strategie es den Grünen sehr viel schwerer gemacht hätte. Auf die Diskussion um den Nachfolger des SPD–Vorsitzenden Brandt gingen nur wenige Redner ein. Hubert Kleinert aus Marburg meinte, daß die Frage, ob rot–grüne Bündnisse gewünscht würden, aber nicht auf jeden Fall eine Frage bleibe, die sich zuerst an die SPD richte: „Die hat den Schwarzen Peter“. Draußen vor der Tür wettete unterdessen Thomas Ebermann, daß Oskar Lafontaine nicht SPD–Vorsitzender werde. Außerdem würde in der derzeitigen Debatte unterschätzt, daß rot–grüne Absichtserklärungen auch eine wahlpolitische Reaktion der CDU/CSU zeitigen würde, gegen die die Anti–rot– grün–Attacken dieses Wahlkampfes harmlos wären. Ob angesichts dieser absehbaren Reaktion also Rot–Grün automatisch bessere Chancen hätte als Rot und Grün alleine, sei nicht ausgemacht. Kommentar Seite 4