D O K U M E N T A T I O N „Es geht um Maßnahmen revolutionären Charakters“

■ Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS dokumentiert die Rede Michail Gorbatschows vor dem Plenum der KPdSU / „Über die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei“ / Kontrolle der Funktionäre von unten gefordert / Für konsequente Durchsetzung echter Selbstverwaltung

Moskau (TASS) - Die Frage der Umgestaltung und der Kaderpolitik der KPdSU müsse aus breiter sozialpolitischer Sicht und unter Berücksichtigung der Lehren aus der Vergangenheit, des Charakters des gegenwärtigen Zeitabschnitts und der Aufgaben für die Zukunft behandelt werden. Das erklärte der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, am Dienstag in seinem Referat auf dem Plenum des ZK der KPdSU zu dem Thema „Über die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei“. (...) Vom Aprilplenum 1985 und vom XXVII. Parteitag der KPdSU seien Beschlüsse gefaßt worden, die für die Geschicke des Landes von historischer Bedeutung sind. Diese politische Strategie habe allen gesunden Kräften der Gesellschaft Auftrieb gegeben. Im Land bilde sich eine neue Atmosphäre heraus und finde ein Umdenken statt. Immer mehr setze sich Offenheit durch. Diskussionen hätten sich entfaltet, bei denen es sich um Wege der Umgestaltungen in der Wirtschaft, im sozialen und geistigen Bereich gehe. „Wir haben unwiderruflich mit der Umgestaltung begonnen und auf diesem Weg die ersten Schritte getan. Zieht man eine allgemeine politische Bilanz, dann kann man voller Überzeugung sagen: Im Leben der sowjetischen Gesellschaft vollziehen sich gewaltige Veränderungen, positive Tendenzen verstärken sich.“ (...) „Bei der Ausarbeitung der Politik und in der praktischen Tätigkeit überwogen konservative Haltungen, Trägheit, das Bestreben, alles vom Tisch zu wischen, was nicht in die gewohnten Schemata paßte.“ Die Leninschen Thesen vom Sozialismus seien vereinfachend interpretiert und nicht selten ihrer Tiefe und Bedeutung beraubt worden. (...) „Besonders schwerwiegende Folgen hatten die Einschränkungen der Rechte der Betriebe und Vereinigungen in der wirtschaftlichen Rechnungsführung. Das untergrub die Grundlagen der materiellen Stimulierung. Es verhinderte, daß hohe Endergebnisse erreicht wurden, und führte zu einem Absinken der Aktivität der Menschen in der Arbeit und im gesellschaftlichen Leben, zum Nachlassen von Disziplin und Ordnung“, wird in dem Referat Michail Gorbatschows unterstrichen. Das alles habe sich negativ auf die Entwicklung vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgewirkt. (...) Die in den letzten Jahren aufgekommenen Elemente von sozialer Korrosion wirkten sich negativ auf die geistige Haltung der Gesellschaft aus und höhlten unmerklich die hohen moralischen Werte aus, die dem sowjetischen Volk stets immanent waren. Ideologie und Psychologie der Stagnation fanden ihre Widerspiegelung auch im Zustand der Kultur, Literatur und Kunst. Die Kriterien bei der Einschätzung des künstlerischen Schaffens sanken. (...) Das Prinzip der Kollektivität der Arbeit wurde verletzt und die Rolle der Parteiversammlungen und der gewählten Organe geschwächt. Viele Parteimitglieder in leitenden Positionen werden von Kontrolle und Kritik nicht erfaßt. Die im Statut festgelegten Garantien der Reinheit der Reihen der Partei blieben oft wirkungslos, stellte der Redner fest. „Alles Gesagte, Genossen, zeugt davon, wie ernst die Lage in den verschiedenen Sphären der Gesellschaft ist und wie notwendig tiefgreifende Veränderungen sind“, heißt es in dem Referat. „In dieser Situation, Genossen, wurde auch die Frage der beschleunigten sozialökonomischen Entwicklung des Landes, der Umgestal tung aufgeworfen.“ Es geht im Grunde genommen um eine Wende und um Maßnahmen revolutionären Charakters, betonte Michail Gorbatschow. „Einen anderen Weg haben wir einfach nicht. Zurück dürfen wir nicht, zurück können wir auch nicht.“ (...) Der Redner ging auf Probleme der weiteren Entwicklung der dem Sozialismus eigenen demokratischen Formen ein. Er stellte fest, daß sich der Demokratisierungsprozeß gegenwärtig in allen Bereichen des Lebens der Gesellschaft durchsetzt. Die Arbeit der Parteiorganisationen werde lebensvoller, Offenheit, Kritik und Selbstkritik nähmen zu, die Massenmedien arbeiteten aktiver, neue gesellschaftliche Organisationen würden gegründet. Die Teilnahme der Werktätigen an den gesellschaftlichen Angelegenheiten und an der Leitung des Staates wachse. Von erstrangiger Bedeutung sei die Entwicklung der Demokratie in der Produktion und die konsequente Durchsetzung echter Selbstverwaltung. (...) Auf das sowjetische Wahlsystem eingehend, sagte der Generalsekretär, die mit der Umgestaltung zusammenhängenden Prozesse könnten um dieses keinen Bogen machen. (...) Immer dringlicher, so heißt es weiter, werde auch die Erweiterung der innerparteilichen Demokratie, vor allem bei der Bildung der Leitungsgremien von Parteiorganisationen auf allen Ebenen. Im Referat wird eine Änderung der Modalitäten der Wahl leitender Funktionäre der Stadtbezirks–, Stadt–, Gebiets– und Republikorganisationen der KPdSU angeregt. Es wird vorgeschlagen, daß die Sekretäre, darunter auch die Ersten Sekretäre, in geheimer Abstimmung auf Plenartagungen der jeweiligen Parteikomitees gewählt werden. Die Mitglieder des Parteikomitees würden dabei das Recht haben, eine beliebige Zahl von Kandidaten auf die Wahlliste zu setzen. Zur Zeit werden die Leiter der Parteikomitees in offener Abstimmung gewählt. Die Demokratisierung der Gesellschaft stelle auch die Frage der Kontrolle darüber, wie die Parteigremien, Staats– und Wirtschaftsorgane und deren Kader arbeiten, auf eine neue Ebene. Von wesentlicher Bedeutung sei, das Niveau und die Effektivität der Kontrollle „von unten“ zu erhöhen, damit jeder Leiter und jeder Funktionär sich ständig seiner Verantwortung und seiner Abhängigkeit von den Wählern, den Arbeitskollektiven, den gesellschaftlichen Organisationen, von Partei und Volk als Ganzem bewußt sei. (...) Die Wirksamkeit echter Demokratie hänge davon ab, wie breit ihre soziale Basis ist, wie die Reserven und Möglichkeiten für ihren Ausbau genutzt werden. In diesem Zusammenhang werden im Referat solche Fragen behandelt wie die Teilnahme der jungen Generation an der Lösung der Aufgaben der Umgestaltung. (...) Michail Gorbatschow ging auf Fehler in der Kaderarbeit ein, die in den letzten Jahren begangen wurden. (...) Als entscheidendes Kriterium in der Kaderpolitik bezeichnete der Generalsekretär die Einstellung der Kader zur Umgestaltung. (...) Viel Beachtung gilt auch der Erhöhung der Rolle und der Verantwortung der Sowjets der Volksdeputierten und der Gewerkschaftsorganisationen für die Beschleunigung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Neue anspruchsvolle Aufgaben wurden auch den Kadern der außenpolitischen Institutionen zur Verwirklichung der aktiven internationalen Tätigkeit der KPdSU und des Sowjetstaates gestellt. (...)