Ärzte leugnen Schuld im Kunstfehler–Prozeß

■ In Dortmund stehen drei Ärzte vor Gericht / Sie hatten Zwilling im Mutterleib übersehen / Staatsanwaltschaft fordert Geldstrafe - Verteidigung Freispruch / Der heute fast fünfjährige Rene Koenen wird immer schwerstbehindert bleiben

Aus Dortmund Rita Schnell

Rene Koenen ist schwerstbehindert. Er mußte sein bisher fast fünfjähriges Leben in einem Spezialstühlchen zubringen, kann nicht sprechen, nicht sehen. Er wird, so Staatsanwalt Rainer Kahnert vor dem Dortmunder Landgericht „niemals in der Lage sein, in einer menschlichen Gemeinschaft zu leben“. Rene hat schon vor seiner Geburt im Marien–Hospital der Stadt Hamm keine Chance gehabt. Als zweiter Zwilling war er während der Schwangerschaft schlicht übersehen worden. Als er am 27. Mai 1982 kurz nach seinem Bruder Sascha das Licht der Welt erblicken wollte, war sein Leben bereits gezeichnet. Der junge unerfahrene Assistenzarzt Klaus Wirth hielt die Schwangerschaft nach der Geburt von Sascha für beendet. Er ließ das Medikament Methergin der Firma Sandoz zur Förderung der Nachgeburt spritzen und verursuchte dadurch einen Sauerstoffmangel im Gehirn des noch ungeborenen Zwillings. Als Rene endlich, eine halbe Stunde nach seinem Bruder, geboren wurde, war er geistig und körperlich aufs schwerste geschä digt. Doch nicht nur der damals 32jährige Assistenzarzt Klaus Wirth wurde durch den Zwilling überrascht. Auch sein Chef an der Gynäkologischen Abteilung, Heinrich Tillmanns (52), war ahnungslos, genauso wie sein Kollege, der niedergelassene Frauenarzt Klaus Blinne (44), der die Mutter Ute Koenen (32) während der Schwangerschaft betreut hatte. Alle drei haben sich nun wegen Körperverletzung zu verantworten. Unstrittig war vor Gericht die schwere Behinderung des Jungen. Aber niemand hat die Verantwortung für das tragische Geschehen übernehmen wollen. Die drei Doktoren fühlten sich unschuldig. In diesem Sinne haben die Anwälte dann auch einhellig einen Freispruch für ihre Mandanten gefordert. Unschuldig fühlt sich Klaus Wirth, der die Geburt leitete. Er war damals noch in der Ausbildung und glaubte, sich darauf verlassen zu können, nur mit Geburten betraut zu werden, denen er nach seinem Erfahrungsstand gewachsen gewesen wäre. Und in der Betreuung von Risikogeburten - dazu gehören Zwillingsge burten - hatte er noch keine Erfahrungen gesammelt. Er geriet in Panik, als er plötzlich ein zweites Kind feststellte . Zu seinen Fehlern gehört, Methergin verabreicht zu haben, ohne ein eventuell vorhandenes zweites Kind durch Abtasten auszuschließen. Unschuldig fühlt sich auch der Chefarzt Tillmanns, der sich auf die Diagnose des überweisenden Arztes verlassen hatte. Unstimmigkeiten im Mutterpaß hatten ihn dabei nicht stutzig gemacht. Und unschuldig fühlt sich der selbstgefällige Frauenarzt Klaus Blinne, der glaubte, mit der Überweisung alle Verantwortung für seine Patientin losgeworden zu sein. Ihm haben Staatsanwaltschaft, Nebenkläger und Gutachter wiederholt vorgeworfen, Anzeichen für eine Zwillingsschwangerschaft übersehen zu haben. „Mal tritt es links, mal rechts“hatte sich die junge Mutter gewundert. Dr. Blinne fand das normal: „Es ist halt ein lebhaftes Kind“, beruhigte er Ute Koenen. Und „das Kind hat sich eben gedreht“, befand der Arzt, als die Herztöne nach Aussage der Mutter „mal links, mal rechts“ zu hören waren. Auch bei der in der 16. und 20. Woche vorgeschriebenen Ultra–Schalluntersuchung fiel Dr. Blinne nichts ungewöhnliches auf. Zuvor hatte er Ute Koenen wegen ihres Kinderwunsches behandelt, eine Behandlung, nach der Zwillingsschwangerschaften doppelt so häufig wie normal auftreten. Im Mutterpaß hatte er den Hinweis „Risikogeburt“ zunächst unterstrichen, später aber wieder korrigiert. Andere Auffälligkeiten während der Schwangerschaft hatte er erst gar nicht in den Mutterpaß eingetragen. Dennoch konnte ihm die Schwangerschaft nicht völlig unproblematisch vorgekommen sein, denn er überwies Ute Koenen vorzeitig zur stationären Behandlung ins Marienhospital. Zuvor rief er noch bei Chefarzt Tillmanns, seinem früheren Ausbilder und heutigen Doppelkopfpartner an: „Ich schicke dir da eine Patientin“, will er gesagt haben, „laß da nichts anbrennen.“ Was immer er damit gemeint haben mag, beim Chefarzt löste es keine besondere Vorsicht aus. Er sah bei der Eingangsuntersuchung keine Probleme voraus, betraute seinen Assistenten mit der Geburt und ging nach Hause. Nach Auffassung von Staatsanwalt Kahnert waren die Ärzte „in Routine erstarrt“. Er hat 45.000 DM Geldstrafe für Chefarzt Tillmanns beantragt, 36.000 DM für Dr. Blinne und 7.500 für das schwächste Glied in der Kette, den Nachwuchsarzt Wirth. Die Urteilsverkündung ist für den 4. Februar vorgesehen.