„Das Volk braucht die Wahrheit“

■ Eine Analyse der Gorbatschow–Rede vor dem ZK der KPdSU zeigt eine deutliche Verschiebung der Prioritäten des Reformkonzepts / Noch gibt es starke Widerstände

Während ich am Mittwoch zum zweiten Mal an diesem Tag durch dichtes Schneetreiben über spiegelglatte Straßen zum Berliner Nowosti–Büro lief, um mir Gorbatschows Ansprache vor dem ZK–Plenum zu besorgen, wurde mir bewußt, wie ungewöhnlich dieser Aufwand war: Von all den Reden realsozialistischer Staats– und Parteiführer, die ich seit Jahren zu lesen gezwungen bin, hätte kaum eine diese Anstrengung gelohnt. Solche Reden wirken in der Regel fast zeitlos und sind gut auch erst eine Woche später zu lesen. Gorbatschow hat auch hier eine bedeutsame Wendung gebracht: Auf seine Reden kann man tatsächlich gespannt sein. Auch diesmal hat sich der Aufwand gelohnt. Das beginnt mit der Sprache, die anders ist als die seiner Vorgänger oder auch seiner gegenwärtigen Kollegen in der DDR. Ein Beispiel: Gorbatschow spricht über Gesellschaftswissenschaften und die Nationalitätenfrage: „Es ist schließlich eine Tatsache, Genossen, daß anstelle der ... wirklichen Analyse der sozialökonomischen und geistigen Prozesse..., einige unserer Gesellschaftswissenschaftler lange Zeit lieber Traktate in der Art von Trinksprüchen verfaßten (...)“. Jedem Leser dieser „Traktate“ hat er damit aus der Seele gesprochen. Ebenso scharf ist seine Diagnose der wachsenden Kluft zwischen „der Welt der Alltagsrealitäten und der des demonstrativen Wohlstands“: „Die wahre Sorge um die Menschen, ihre Arbeits– und Lebensbedingungen und ihr soziales Befinden wurde nicht selten durch politisches Kokettieren ersetzt - durch die massenhafte Vergabe von Auszeichnungen, Titeln und Prämien.“ Solche Passagen dokumentieren den Willen Gorbatschows, die Dinge beim Namen zu nennen. Er bewegt sich dabei - das ist keine Frage - innerhalb des Koordinatensystems des „Leninismus“, dessen „Geist (er) wiedererstehen lassen“ und dessen Modernisierungspotential er austesten will. In seinem Schlußwort vor dem ZK–Plenum zitierte er Lenins Feststellung, es sei an der Zeit, mit den Methoden des sektierischen Zirkelwesens Schluß zu machen, und zog die Konsequenz: „Das Volk braucht die ganze Wahrheit.“ Daß es dagegen Widerstände gibt, ist selbstverständlich. Mit ihrer Überwindung scheinen die Reformer aber zumindest ein Stück weit vorangekommen zu sein. Die Personalentscheidungen des Plenums haben ihre Position gestärkt, hätten aber weit drastischer ausfallen können. Wichtiger ist die Verschiebung in der Bestimmung der Reformkonzeption. Gorbatschow hat, seit er Generalsekretär ist, die Auffassung vertreten, die Wirtschaft sei nur effizienter zu machen, wenn es auch zu gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen kommt. So weit wollten einige seiner Genossen aus dem Politbüro schon bisher nicht gehen. Umso weniger werden diese Kräfte davon angetan sein, daß nach Gorb im Politbüro, jedenfalls aber im ZK noch immer in der Minderheit, denn in der Abschlußresolution des Plenums wird dieses Thema an den Rand gedrückt. Gorbatschow hatte dazu in seinem Referat konkrete Vorschläge gemacht, die sich auch auf den Kernbereich des sowjetischen Herrschaftssystems, die Partei, erstreckten. Führungskader sollten künftig, bis hin zu den Ersten Sekretären der Republiken, in geheimer Abstimmung gewählt werden. Jeder sollte dazu Vorschläge einbringen können. Und es muß den Repräsentanten des Parteiapparates in den Ohren geklungen haben, als der Generalsekretär sagte: „Die Rolle der Exekutivorgane gewann gegenüber den gewählten Organen in unzulässiger Weise die Oberhand.“ Ähnlich hatte in den 20er Jahren die „Linke Opposition“ die Ursachen der „Krise der Partei“ diagnostiziert. Doch gerade diese Punkte werden in der Abschlußresolution des ZK–Plenums nicht aufgegriffen. Die Reformstrategie, die dort vorgegeben wird, konzentriert sich auf die „Kaderpolitik“, d.h nicht die Strukturen der Partei sollen verändert werden, sondern bessere, dem neuen Kurs verpflichtete Leute sollen ran. Sie sollen dann auch mehr „Offenheit“ pflegen, sich einen demokratischeren Arbeitsstil angewöhnen, sich zu „Kritik und Selbstkritik“ verpflichten, sich für eine „Demokratisierung“ von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen. Diese „Demokratisierung“ unter Vorbehalt wird schwerlich ausreichen, jene Haltung grundsätzlich zu verändern, die Gorbatschow in seinem Referat mit den Worten umschrieb: „Viele Menschen... warten ab“, „viele, die das Neue unterstützen, sind der Meinung, daß man irgendwo da oben verpflichtet ist umzugestalten... - nur nicht sie selbst.“ Immerhin stellt auch die Resolution des ZK–Plenums fest, daß der Reformprozeß sich noch „in der Anfangsetappe“ befindet. Der weitere Fahrplan für die nächste Zeit: Konkretisierung und Bestätigung der Wirtschaftsreform auf dem nächsten ZK– Plenum im Sommer 1987 und im nächsten Jahr eine Unionsparteikonferenz zur „weiteren Demokratisierung des Lebens der Partei und der Gesellschaft“. Gorbatschow hat sie als „außerordentlich bedeutsames politisches Ereignis“ angekündigt. Das dürfte wohl zutreffen, denn anders als bei den Beschlüssen des eben beendeten Plenums wird dann auch das Problem der innerparteilichen Strukturen nicht mehr ausgeklammert werden können. Man muß kein Astrologe sein, um vorauszusagen, daß es darum in den kommenden Monaten erbitterte politische Auseinandersetzungen geben wird. Walter Süß