Palästinensische Bevölkerung in den Flüchtlingslagern wird ausgehungert

■ Die Situation im libanesischen Lagerkrieg spitzt sich zu / Fast 50.000 Menschen sind in den Lagern eingekesselt / Weder Nahrung noch Medikamente kommen durch die Sperren / Hunger und Seuchen in den eingeschlossenen Gebieten / Ein Arzt berichtet aus Chatila

Von Petra Groll

Berlin (taz) - Während die westliche Welt mit Spannung verfolgt, wie sich Frankreich, die USA und seit kurzem auch die Bundesrepublik gegenüber libanesischen Geiselnehmern verhalten, spielt sich im Südlibanon und am Rand der Hauptstadt Beirut ein Drama ab, das außerhalb der arabischen Welt kaum Beachtung findet. 45 bis 50.000 Palästinenser in den drei Flüchtlingslagern Rashediyeh, Bourj–el–Brajneh und Chatila sind nicht nur von militärischen Auseinandersetzungen bedroht, eine gnadenlose Blockade durch die pro–syrische Schiitenbewegung Amal macht auch die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten unmöglich. In den Lagern Rashe diyeh und Bourj–el–Brajneh herrscht Hunger. Eine notdürftige medizinische Betreuung versucht, die Seuchengefahr einzudämmen. Die Situation in den Lagern spitzt sich mit jedem weiteren Blockadetag zu. Trotz mehrfa cher Bemühungen um einen Waffenstillstand, um die Lieferung von Hilfsgütern und die Evakuierung der zahlreichen Verletzten, konnte auch im vierten Monat des „Lagerkrieges“ bislang keine po litische Lösung erreicht werden. Der „Lagerkrieg“, in dessen erster großer Etappe im Frühjahr 1985 das Beiruter Palästinenserlager Sabra zerstört und von seinen Bewohnern aufgegeben werden mußte, brach nach einem oftmals verletzten Waffenstillstand Ende September 1986 wieder offen aus. Er hat seitdem auf palästinensischer Seite rund 600 Tote und mehr als 2.000 Verletzte gefordert. Das Lager Chatila, das nach den Massakern 1982 zu trauriger Weltberühmtheit gelangte, ist an seiner Oberfläche fast völlig zerstört und erinnert an Bilder nach dem Zweiten Weltkrieg. In Chatila warten 4.000 Menschen auf einer Fläche von 200 mal 200 Metern auf eine politische Lösung. In Bourj–el–Brajneh, dem zweiten Beiruter Camp, leben ca. 20.000 Menschen, deren Versorgung nach Berichten ausländischer Hilfsteams weitaus schwieriger ist als im militärisch durchorganisierten Chatila. Aus dem südlibanesischen Lager Rashediyeh erreichten uns in der vergangenen Woche erschütternde Augenzeugenberichte. Säuglinge sterben an Unterernährung, Kranke und Verwundete sterben, weil sie medizinisch kaum betreut werden können. (siehe taz vom 31.1.87). Die Bevölkerung hofft auf Erfolg bei politischen Verhandlungen, an denen eine ganze Reihe arabischer Länder beteiligt sind, die bislang aber keinerlei Fortschritte zeigten. Besonderes Vertrauen setzt man zudem auf den inner–palästinensischen Dialog, der die seit 1982 zerstrittene Befreiungsbewegung wiedervereinigen soll. Eine vielleicht entscheidende Gesprächsrunde trifft in diesen Tagen in Libyen zusammen. Bei der Verteidigung der Flüchtlingslager haben alle palästinensischen Fraktionen ihre politischen Kontroversen begraben und den Widerstand organisiert. Aus Chatila, dem kleinsten Lager, das seit nunmehr 70 Tagen hermetisch abgeriegelt ist, berichtet in einem Interview, das über Funk geführt werden konnte, ein kanadischer Arzt über den Alltag der Bewohner. Tagesthema auf Seite 3