Frankreichs postmodernes Rotes Kreuz

■ Coluches „Restaurants mit Herz“ florieren unter der Regie Jean–Michel Vaguelsys besser denn jeh / Ungekochtes Essen zum Mitnehmen wird an Bedürftige verteilt / 600 kassenlose Restaurants stehen Frankreichs Armen zur Verfügung

Aus Paris Georg Blume

„Der Fehler wäre, sich für jemanden zu halten, der eine Botschaft zu überbringen hat.“ Jean–Michel Vaguelsy, Mitte dreißig, zieht die Lehre aus seiner Berufserfahrung: „Ich bin ein Profi des Medien–Spektakels.“ Doch immerhin an außergewöhnlicher Stelle: Jean–Michel ist verantwortlich für die Austeilung von täglich 130.000 Gratis–Mahlzeiten an Frankreichs Arme. Als Chef der „Restaurants mit Herz“ leitet er die größte LebensmittelvergabeAktion der französischen Nachkriegsgeschichte. Die „Restaurants mit Herz“, oder vielleicht besser: die Supermärkte mit Herz - das Essen wird ungekocht zum Mitnehmen ausgeteilt - gibt es überall. 600 kas senlose Restaurants mit über 6.000 freiwilligen Helfern. Sie verteilen mehr als die Hälfte der Lebensmittelhilfen im ganzen Land. Da stehen Rotes Kreuz, Heilsarmee, katholisches Hilfswerk, und wie sie auch in Frankreich alle heißen, hinten an. Ein moderner Heiliger der Medien hat die „Restaurants mit Herz“ geschaffen. Coluche, oder vielmehr „Saint– Coluche“, wie er genannt wird, der zeitlose französische Zeitgeistkomiker, einst Präsidentschaftskandidat der Linksradikalen, entwarf das Konzept der Billiggaststätten im vergangenen Winter. Seine Devise: „Wenn die Gesellschaft schon nicht in der Lage ist, allen Arbeit zu geben, dann gebe sie ihnen wenigstens zu fressen.“ Nach zehn Jahren radikalen Protestes fühlte sich Coluche nun der Gesellschaft soweit verpflichtet, daß er sich diese Aufgabe selbst stellte. Welch faszinierende Eigendarstellung: TV, Radios und Presse feierten Coluche. Politiker aller Couleur kamen zu seinen Fernsehshows für die „Restaurants mit Herz“. Doch um einen Heiligen wirklich zu verehren, muß er tot sein. Im Juni starb Coluche bei einem Motorradunfall. Er selbst sagte: „Heute habe ich Talent, wenn ich gestorben bin, werde ich genial sein.“ Unter der Leitung Michel Vaguelsy geht es den „Restaurants mit Herz“ so gut wie nie: ein Spendenaufkommen von 15 Millionen DM in den wenigen Wochen seit ihrer Öffnung am 21. Dezember - die „Restaurants mit Herz“ gibt es nur im Winter -, so daß die Traumzahl von 200.000 verteilten Mahlzeiten pro Tag zu Saisonschluß, am 21. März, in greifbare Nähe gerät. Coluche war wahrhaft genial. Die Realität wohl weniger. Im Betonghetto der Pariser Arbeitervorstadt Fontenay–sous– Bois, in einem dunklen Keller des Theatersaals der kommunistischen Gemeinde öffnet um zehn Uhr morgens der Coluchesche Supermarkt dreihundert ruhig wartenden Menschen die rostige Eisentür. Eine Million Notleidende, so sagen die Hilfsverbände, gibt es bereits in Frankreich. Das heutige Menü in Fontenay, Reis, Thunfisch, Äpfel, Schokoladenriegel und Sahnekäse wird den Gästen roh und frisch in Plastiktüten von „Auchan“, einem Supermarkt, gepackt. „Mit der Plastiktüte der anderen bleiben wir anonym“, erklärt Jean–Michel. Die Anonymität, so weiß er, ist die Voraussetzung für den Erfolg bei den Betroffenen. Ein kleiner Junge, der Essen für die ganze Familie holt, vergißt den Sahnekäse. Madame Ros, die Chefin des Restaurants, ruft ihn schnell zurück. Bei Coluche wird man eben gut bedient. Alle, die hierher kommen und selbst die Nachbarin, die ob der vielen bedrückten Gestalten schimpft, die nun ihr Viertel frequentieren, stehen auf Coluche. Der lustige Coluche im Fernsehen und der traurige Anblick eines „Restaurants mit Herz“, beides gehört zusammen und hat doch nichts miteinander zu tun. Eine freiwillige Helferin, die vom Katholischen Hilfswerk zum „Restaurant mit Herz“ gekommen ist, findet die Lieder von Coluche zwar scheußlich, aber auch sie ist überzeugt: „Coluche war ein guter Mensch.“ Dem weiß auch der kommunistische Bürgermeister von Fontenay, Jean–Francois Vouguet, der sonst für Notlösungen keinen Sinn hat und den sozialen Problemen auf den Grund gehen will, nichts mehr hinzuzufügen. „Coluche hat um sich einen nationalen Konsens geschaffen, dem schwer zu widerstehen ist.“ Wenn es gar der Kommunist sagt, muß es wohl stimmen. Und worauf baut der Konsens? „Auf einer revolutionären Idee“, meint Jean–Michel und erklärt: „Im Esprit von Coluche gab es keine Barmherzigkeit. Die Idee war einfach: Verteilen, was da ist. Die EG–Butter inbegriffen. Dabei hatten wir eine einzige Sorge: effizient zu sein.“ Keine christliche Botschaft also, keine Barmherzigkeit von Jean–Michel. Die Zukunft sieht der Supermarktmanager so: „Unsere Zukunft ist die Kommunikation von Aktionen, nicht von Ideen, Analysen oder Reflexionen.“ Ohne schlechtes Gewissen schmeißt Jean Michel damit alle traditionellen Formen verbrämter Mild– und Wohltätigkeit über den Haufen.