„Gorbatschows Reformen ernstnehmen“

■ Zdenek Mlynar war während des Prager Frühlings 1968 in der CSSR ZK–Sekretär für Wirtschaft. Heute arbeitet er als Friedensforscher in Wien. In einem taz–Gespräch mit Erich Rathfelder spricht er über die Gegner von Gorbatschows Reformen im Westen und im Ostblock

taz: Schon zu Beginn der Ära Gorbatschow waren Sie überzeugt, daß in der UdSSR nun Reformen begonnen würden. Viele Ihrer Ansichten haben sich bestätigt. Ist Michail Gorbatschow, den Sie von der Studienzeit her kennen, ein Revolutionär? Zdenek Mlynar:Er ist sicher ein Mensch, der die Wirklichkeit ändern will, und wenn man unter Revolution eine Systemveränderung vrsteht, dann kann man auch sagen, er hat revolutionäre Absichten. Es gibt viele Beispiele in der russischen Geschichte, daß eine „Reform von oben“ - ich nenne Gorbatschows Versuch mal so - durchgesetzt werden sollte. Man denke nur an Zar Peter. Es ist nicht nur eine Reform von oben. Grundsätzlich geht die Initiative von oben aus, aber nicht in dem Sinne, daß die Gesellschaft nicht zu mobilisieren wäre. Jetzt gerade versucht die sowjetische Führung, auch die Kräfte von unten für die Reform zu mobilisieren. Ich war immer schon ein Optimist. Und da sehe ich einen Beweis dafür, daß Gorbatschow, möglicherweise die ganze sowjetische Führung, auch gewisse Initiativen von unten zulassen und eine Debatte und wirkliche neue Formen suchen wollen. Ich bin davon überzeugt, daß das ernstgemeint ist, gerade wegen der Formulierungen, die Gorbatschow in seiner Rede vor dem ZK gebraucht hat, vor allem die, welche die Vergangenheit betreffen. Wenn er sagt, die Konzepte des Sozialismus sind eigentlich auf dem Niveau der dreißiger und vierziger Jahre stec kengeblieben, dann zielt er auf die Ursachen für die Stagnation der achtzehn Jahre unter Breschnew. Er hat begriffen, was auch die Reformer in der CSSR 1968 gesagt haben: Es geht darum, das System qualitativ zu verändern, und dazu braucht man die Initiative von unten. Man spricht über einen Kampf zwischen Gegnern und Befürwortern der Reform. Es wird ein langer Entwicklungsprozeß nötig sein, um die Demokratisierung durchzusetzen. Ein Prozeß der noch Generationen der sowjetischen Gesellschaft beschäftigen wird. Es wird auch zu Rückschlägen kommen. Viele meinen, daß sich die sowjetische Gesellschaft demokratisieren muß, um im Konkurrenzkampf zur anderen Weltmacht bestehen zu können. Das schließt eine Wirtschaftsreform ein, eine Effektivierung der Produktion, die Einführung moderner Technologien, wie die Computerisierung. Reformen auf Feldern also, die auch den Interessen der Militärs entgegenkommen. Bisher scheinen der Geheimdienst KGB und auch die Militärs Gorbatschow unterstützt zu haben. Wenn jetzt eine Massenbewegung für die Reform entwickelt wird, werden nicht diese Kräfte irgendwann sagen, bis hierher und nicht weiter? Nicht nur sie. Die Grenze der Reformbefürworter und -gegner verläuft innerhalb der Apparate und innerhalb der sozialen Schichten. Die politische Bürokratie tritt nicht unbedingt als Gegner der Reform auf - Gorbatschow und die jetzige Führung kommen ja aus dieser Schicht. Innerhalb dieser Schicht scheiden sich die Geister, und so verhält es sich auch im Parteiapparat, im KGB und im Militär. Sicher gibt es auch im KGB Leute, die die Reform befürworten. Andererseits gab es da sicher Kräfte, die dagegen waren, den Andrei Sacharow aus der Verbannung zu holen. Den KGB kann man nicht im vorhinein mit einem Unterdrückungsapparat gegen die Dissidenten identifizieren. Es ist ein Apparat der wirksamen Kontrolle, der auch bei der Enthüllung der Korruption eine Rolle spielt, und kann für die Reform genutzt werden. Langristig gesehen ist aber eine Reform mit einem Polizeistaat nicht zu vereinbaren. Chruschtschow hat den Apparat des Massenterrors abgeschafft. Jetzt geht es darum, eine neue Rolle für die Kontrollapparate zu suchen. Das Gelingen hängt auch vom Westen ab. Gorbatschows Konzeption besteht darin, dem Militär die überragende Bedeutung zu nehmen und die Rüstungsausgaben zu verringern. Die Armee ist kein Gegner der Wirtschaftsreform. Man weiß dort, daß ohne moderne Industrie die Verteidigungskraft des Landes schwächer wird. Das würde bedeuten, daß Gorbatschow sich durchsetzen kann, wenn es kein wirksames Bollwerk mehr gegen die Reform gibt. Es dreht sich nicht nur darum, ob er durchkommt oder nicht. Das ist das Risiko eines Politikers, der etwas Neues versucht. Er braucht aber nicht nur die Unterstützung aus dem Apparat, sondern auch der Mehrheit der Gesellschaft. Ich glaube, das ist optimistisch zu beurteilen. Die Reform ist seit langem fällig, sie hätte schon in der Chrutschtow–Ära beginnen müssen. Sie waren in dieser Zeit in der CSSR ZK–Sekretär für Wirtschaft. Was läuft jetzt in der Sowjetunion ähnlich, wo sind die Unterschiede zur CSSR? Die grundsätzlichen Fragen sind gleich. Es ging damals darum, die Wirtschaft von einem extensiven zu einem intensiven Wachstum zu führen. Wir wußten auch, daß diese Reform nicht ohne Demokratisierung gelingen würde, das gleiche sagt heute auch Gorbatschow. Entweder wird die Reform erfolgreich sein, und dann brauchen wir „Demokratie wie die Luft zum Atmen“, wie er sagt. Oder aber die Demokratisierung scheitert, dann ist es mit der Modernisierung der Wirtschaft auch vorbei. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse ist in der CSSR gewesen. Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß ZK–Sekretär Vasil Bilak, der Würger des Prager Frühlings, nun Ideen gegenübersteht, die er schon von 1968 kennt. Das ist eine paradoxe Lage, die jetzt in Prag entstanden ist. Daß Bilak im Machtzentrum sitzt, ist nur durch die sowjetischen Panzer möglich gewesen. Wie beurteilen Sie die Politik der UdSSR den Ländern ihres Blocks gegenüber? Im großen und ganzen erhalten diese Länder jetzt mehr Spielraum. Sie sind nicht gezwungen, ein Modell zu kopieren. Es gibt auch Länder, die diese Selbständigkeit nicht nutzen wollen - wie die CSSR, die sich vor dieser Reform fürchtet. In Ungarn ist die Reaktion dagegen positiv. In Polen haben diejenigen, die eine Lösung der gesellschaftlichen Kon flikte suchen, möglicherweise nun bessere Bedingungen als unter Breschnew oder Tschernenko. In Rumänien hingegen kritisiert Ceausescu Gorbatschow mit Argumenten wie: „Der läßt Kleinunternehmer zu, und das ist nicht sozialistisch.“ Kommen wir zur Außenpolitik: Aus Afghanistan will die Sowjetunion wohl raus, aber der Westen zielt nicht unbedingt auf eine politische Lösung. Auch in Vietnam und Kambodscha scheint es Anzeichen für eine Veränderung zu geben, und in der Abrüstungspolitik sind doch einige Schritte gewagt worden, die man den Sowjets nicht zugetraut hätte. Wo liegen die Gegenkräfte im Westen, will man keine reformierte Sowjetunion? Diese neue Außenpolitik kommt zu einer Zeit, wo in den USA eine politische Strömung an der Macht ist, die überhaupt nicht versucht, ihre Politik den neuen Gegebenheiten anzupassen, die eher von der Idee beherrscht wird, mit SDI wieder eine „Wunderwaffe“ zu entwickeln. Die Versuche der Konservativen, die Gorbatschow–Initiative nicht ernstzunehmen, sind meiner Meinung nach gefährlich. Es führt dazu, daß Chancen verpaßt werden. Das geschah schon einmal unter Chruschtschow. 1953 bis 1956 waren die Sowjets zu vielem bereit. Man glaubte aber im Westen, Stalins Tod und die Veränderungen danach seien eine Schwächung der Sowjetunion. Sollte man die Entwicklung der Sowjetunion heute bei uns in der Bundesrepublik unterstützen? Jeder, der interessiert ist, den Konflikt zwischen Ost und West durch eine kooperative Entwicklung zu ersetzen, soll seinen Beitrag dazu leisten. Kommt es zu einer Renaissance des Marxismus? (lacht) Das ist schwer zu sagen. Wenn alles gelingt, was in er Sowjetunion geplant ist, dann könnte man darüber nachdenken, ob die marxistische Interpretation in diesem Teil der Welt wieder geweckt wird. Aber eine im politischen Sinn rückständige Gesellschaft wird nicht in ein paar Monaten zu einem Vorbild für die Welt. Es ist wichtig, daß die Sowjets sich nicht mehr für solch ein Vorbild halten.