Nach der Stille fallen Schüsse

■ Die Camorra läßt in Neapel auf streikende Bauarbeiter schießen, nachdem sich diese nicht mehr auf ihre offizielle Interessensvertretung verlassen, sondern immer stärker in autonomen Miniorganisationen solidarisieren

Aus Neapel Werner Raith

Pasquale Trammarco trifft nach Einschätzung eines herbeigeeilten Ober–Gewerkschafters aus Rom, „den Nagel immer auf den Kopf“. Trotzdem muß der Ortschef der Bauarbeiterorganisation Filles–CGIL diesmal ab und zu seinen Daumen mitgetroffen haben. Jedenfalls zuckt sein Gesicht immer wieder nervös nach links, auch wenn ihm Beifall zubrandet: Da links stehen ein paar unverwechselbare Proletarier im Blaumann, und die fragen, sobald der Beifall aufhört, monoton: „Und wo warste vorher?“ Vorher - das war vor „dem unglaublichen Ereignis“, dem „qualitativen Sprung“, dem „unerhörten Anschlag“, wie Trammarco „das Ereignis“ umschreibt: Ein Camorra–Kommando hatte im östlichen Stadtviertel Poggioreale auf einige Dutzend Arbeiter geschossen, die eine Baufirma besetzt hatten, um nach Monaten ihre Löhnung einzuklagen. Ein Arbeiter wurde schwer, ein weiterer leicht verletzt: Die vier maskierten Gangster entkamen. Die Firma erklärt, daß sie von ihrem Auftraggeber - ein anderes, derzeit in ein Antimafiaverfahren verwickeltes Unternehmen - ihrerseits kein Geld bekommen habe: „Ja, und wo wart ihr da?“ fragen die Maurer den CGIL–Se kretär immer wieder. Natürlich: Der Verband hatte Ende letzten Jahres auf „offiziellem Wege“ die Gehaltszahlungen moniert. Doch eine Firmenbesetzung ... Da hatte man dann doch nur „ideelles Verständnis“ artikulieren können. Die Arbeiter, die nun einen Generalstreik in der östlichen Zone Neapels ausgerufen haben, sind fest davon überzeugt: Hätten sich die Gewerkschaften endlich einmal „unter dem Tisch hervorgewagt und das Maul aufgemacht, hätte sich die Camorra nicht zu schießen getraut“, wie Calogero, einer der Beschossenen klagt: Er kennt sich aus, denn er kommt aus Sizilien und weiß, wovor sich die „Organisierten“ allenfalls mal zurückziehen: „Vor praktischer Solidarität haben sie Schiß, nicht vor starken Worten vom Schreibtisch aus“. Camorra ist Neapels Alltag: Die „Racketts“ kontrollieren alles und jedes, woraus sich Geld machen läßt, und sie kontrollieren jeden, der im Verdacht steht, Geld zu verdienen. Wer einen Arbeitsplatz will, muß sich mit dem Zonenboß arrangieren - bei einem Viertel arbeitsloser Bevölkerung gibt es da in der Eineinhalbmillionenstadt kaum ein Ausweichen. Wer ein Geschäft besitzt, bezahlt „pizzo“, das Schutzgeld; wer öffentliche Aufträge übernimmt, „tangenti“, die Schmiergelder. Die meisten Aufträge heimsen so wieso camorristische Firmen ein - Scheinunternehmen, die oft nicht einmal eine Schaufel oder eine Planierraupe besitzen, aber 20, 30 Millionen DM für Häuser– oder Straßenbau, für Kanalisation oder Stadtreinigung an sich ziehen und dann, wenn überhaupt, den Auftrag an Subunternehmer weitergeben - zu miserablen Bedingungen. So geschah es offenbar auch der Firma „Cooperativa metalmeccanica di Augusta“ (CMA), die an der Via Stadera in Poggioreale im Auftrag des Großunternehmens Volani 232 Wohneinheiten für die Erdbebenopfer von 1980 hochziehen soll. Die Volani bekommt ihr Geld pünktlich vom Staat, doch an die CMA floß bisher nichts weiter - daher die fehlende Löhnung. Nun verbreiten sich Gerüchte, daß just in diesen Tagen eine Tranche von umgerechnet 600.000 DM für Gehaltszahlungen eintreffen sollte. „Das“, sagt der im Camorra–Verfahren tätige Ermittlungsrichter Mancuso aus Neapel, „haben natürlich auch die Zonenbosse erfahren und ihre Preßgeldeinsammler hingeschickt.“ Vielleicht war das Geld noch nicht da, vielleicht haben sich die CMA– Leute unter Hinweis auf die Firmenbesetzung geweigert, es herauszurücken - „in solchen Fällen machen die Camorristen kurzen Prozeß. Ein paar Schüsse auf die Arbeiter, die Besetzung hört auf, das Geld kann an die Organisierten gehen...“ Genauso sehen es auch die 5.000Arbeiter, die sich nun die großen Worte des CGIL–Chefs anhören, aber sie ziehen andere Konsequenzen als dieser: Wo der Gewerkschafter nach „Denunziation dieses Krebsgeschwürs“ ruft und eine „profunde Analyse der Vorgänge“ fordert, können sie nur lachen: „Als ob wir da noch Analysen brauchten“, sagt Sandro, der dem schwerverletzten Antonio Napolitano Erste Hilfe geleistet hat, „wir wissen alle, wie es vor sich geht, wir wissen alle, daß es alle wissen. Was wir brauchen, ist tägliche Hilfe, nicht Sonntagsreden.“ Die hören sie an diesem Tag gleich dutzendweise - vom eilig eingeflogenen Vorsitzenden der Antimafiakommission über den christdemokratischen Regionalchef bis zum sozialistischen Staatssekretär des Inneren - und keiner läßt auf sich sitzen, „daß wir uns nicht gegen die Camorra stemmen“: Schließlich habe man schon vor fünf Jahren Demonstrationen dagegen veranstaltet, da war sogar der Bischof von Acorra und der damalige CGIL–Vorsitzende Luciano Lama dabei. „Und dann?“ fragt Sandro bloß. Ja, dann kam die große Stille. „Mich wundert eigentlich nur“, sagt Ermittlungsrichter Mancini, „daß die Schüsse nicht schon früher gefallen sind. Erklären läßt sich das nur damit, daß einerseits die Geschäftsleute alle zahlen - und daß die offizielle Arbeiterbewegung eben keinen Eindruck auf die Malavita macht.“ Davon sind auch die meisten Arbeiter überzeugt. „Typisch, daß sie nicht auf einen Gewerkschafter geschossen haben“, sagt Bernardo, „sondern auf uns. Sie haben nicht vor den Eierköpfen Angst, sondern davor, daß wir uns solidarisieren.“ Vielleicht zeigt sich die Camorra sensibler als die Gewerkschaften, was die Arbeiter angeht - nicht nur im neapolitanischen Bauwesen, sondern auch anderswo organisieren sich die Werktätigen längst nicht mehr unter Gewerkschaftsfahnen, sondern untereinander. In Genua bewarfen die Docker ihre Gewerkschaftsbosse mit harten Gegenständen und streikten „wild“, im Gesundheitswesen sind „autonome“ Miniorganisationen längst stärker als die Großverbände. Und auch Neapels Drucker solidarisierten sich ohne Aufruf mit den Bauarbeitern und streikten mit. „Der Verlust der Steuerbarkeit von Arbeitermassen durch ihre Organisation“, erkennt Luciano Violante von der Antimafiakommission, Kommunist und keineswegs Gewerkschaftsgegner, „könnte für die Camorra tödlich sein.“ „Wollens hoffen“, sagt da Sandro nur dazu.