Neue Kampfbedingungen

Es ist, als sei die Basis plötzlich wachgeküßt worden. Nach schleppendem Beginn im letzten Jahr beobachten die Tarifstrategen in der Frankfurter IG–Metall– Zentrale seit dem Wahltermin am 25. Januar eine Veränderung im Verhalten der Mitglieder: die Mobilisierungskampagne für die diesjährige Tarifauseinandersetzung um die 35–Stunden–Woche beginnt zu greifen. Nach der hohen Politik wenden sich die Arbeiter und Angestellten wieder ihrem betrieblichen Alltag zu. Der Rückhalt ist stärker geworden Mit rund zwei Monaten Verzögerung - wenn man den Mobilisierungsfahrplan der IGM–Zentrale zugrundelegt - werden jetzt in vielen Betrieben die „Unternehmer auf den Prüfstand“ gestellt: Was hatten die Unternehmer nicht für schreckenserregende Horrorszenarios über die Wirkungen der Arbeitszeitverkürzung entworfen - und welche positiven Auswirkungen hatte die 1984 in siebenwöchigem Streik erkämpfte und 1985 eingeführte 38,5–Stunden–Woche in der be trieblichen Praxis?Die IG Metall spricht von rund 150.000 durch die Arbeitszeitverkürzung neu geschaffenen Arbeitsplätzen. Jetzt tritt sie mit der Behauptung an, durch die endgültige Einführung der 35–Stunden–Woche ließen sich weitere 200.000 Arbeitsplätze allein in der Metallindustrie schaffen, bei Übernahme der verkürzten Wochenarbeitszeit in andere Branchen entsprechend mehr. Aber obwohl die Gewerkschaft für ihre Strategie der Arbeitsumverteilung in den Betrieben deutlich an Rückhalt gewonnen hat, ist der Ausgang der diesjährigen Auseinandersetzung eher noch ungewisser als vor drei Jahren. Der Grund dafür ist nicht nur die nach wie vor und seit der Wahl deutlicher noch als vorher erkennbare kompromißlose Haltung der Arbeitgeber, undder schon jetzt erkennbare neuerliche Schulterschluß zwischen dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall, der Bundesregierung und der Bundesanstalt für Arbeit. Entscheidend für die Ungewißheit über den Verlauf der diesjährigen Tarifauseinandersetzung sind die nach dem letzten Tarifkampf von der Regierungskoalition durchgesetzten veränderten Rahmenbedingungen: Mit der Veränderung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz wurden den „kalt Ausgesperrten“, also den durch den Arbeitskampf mittelbar Betroffenen Belegschaften, die soziale Absicherung entzogen. Keine Streikgelder bei kalter Aussperrung Schon im Vorfeld der diesjährigen Auseinandersetzung hat IGM–Chef Steinkühler unmißverständlich festgestellt: Die Gewerkschaft wird nicht mit Streikgeldern einspringen, wo 1984 nach langen juristischen Auseinandersetzungen schließlich das Arbeitsamt zahlen mußte. Andererseits haben die Analysen der IGM ergeben, daß es keine Möglichkeiten gibt, den neugefaßten Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz durch veränderte Streikstrategien zu umgehen. Lediglich bei dem Nachweis, daß Produktionseinstellungen tatsächlich arbeitskampfbedingt sind, können die Betriebsräte den Unternehmern genauer auf die Finger schauen als früher. Als die IGM deshalb ihre betrieblichen Funktionäre aufforderte, sich präzise Informationen über Produktionsabläufe, Materialflüsse usw. zu verschaffen, reagierten die Unternehmer empört: „Ausspähung von Betriebsgeheimnissen.“ Warnstreiks nach dem Karneval Anders als 1984 will die IG Metall in diesem Jahr intensiv für Warnstreiks im ganzen Bundesgebiet mobilisieren, um ihre Basis auf Kampf einzustimmen. Ab der zweiten Märzwoche, wenn der Fasching vorbei ist, soll es unruhig werden in den Metallbetrieben der Bundesrepublik. Die Arbeitgeber haben schon jetzt angekündigt, daß sie gegen diese Warnstreiks juristisch vorgehen wollen, weil die Friedenspflicht zwischen den Tarifparteien erst Ende April, einen Monat nach Auslaufen des gleichzeitig mit der Arbeitszeit verhandelten Lohntarifvertrages. Ob eine verstärkte Warnstreikstrategie die Arbeitgeber zu einem annehmbaren Abschluß bewegen kann, wird von den Gewerkschaftern bezweifelt. Man bereitet sich auf eine Auseinandersetzung vor, die „mindestens so hart werden kann wie 1984“. Und weil es im Falle von kalten Aussperrungen keine sozialen Absicherungen mehr geben wird, setzt man auf gestiegene Kampfmoral. IGM–Chef Steinkühler kündigte „den politisiertesten Streik seit Bestehen der Bundesrepublik“ an. In allen Regionen wurden Aktionskomitees gegen die Aussperrung gebildet, an denen sich auch die anderen Gewerkschaften und der DGB beteiligen sollen. Die anstehende Kraftprobe ist nur zu gewinnen, so heißt es, wenn der Tarifkampf mehr als 1984 in eine „gesellschaftliche Mobilisierung“ eingebettet sei. Martin Kempe