D O K U M E N T A T I O N Für eine Welt ohne Kernwaffen und das Überleben der Menschheit

■ Auszüge aus der Ansprache des Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, vor Teilnehmern am Internationalen Forum am 16.2.1987 in Moskau

Meine Damen und Herren! Genossen! (...) Die Schaffung und dann auch die Anhäufung von Kernwaffen und ihren Trägermitteln über jegliche vernünftigen Grenzen hinaus haben den Menschen technisch in die Lage versetzt, seiner eigenen Existenz ein Ende zu bereiten. Gleichzeitig machen die Anhäufung von sozialem Sprengstoff und die Versuche, die Probleme der sich grundlegend veränderten Welt weiterhin mit Gewalt und Methoden zu lösen, die aus der Steinzeit vererbt wurden, die Katastrophe auch politisch überaus wahrscheinlich. Die Militarisierung der Denk– und Lebensweise schwächt oder beseitigt gar die moralischen Hemmungen auf dem Wege zum nuklearen Selbstmord. (...) Nach einem Kernwaffenkrieg aber wird es keinerlei Probleme mehr geben. Keiner wird da sein, um sich an einen Verhandlungstisch, -klotz oder -stein setzen zu können. Eine zweite Arche Noah wird die nukleare Sintflut nicht verlassen können. Vernunftmäßig verstehen das wohl alle. (...) Die allerletzten Jahrzehnte waren dadurch gekennzeichnet, daß die Menschheit erstmalig in ihrer Geschichte, und nicht nur einzelne ihrer Vertreter, beginnt, sich als einheitliches Ganzes zu begreifen, die globalen Wechselbeziehungen des Menschen, der Gesellschaft und Natur zu sehen und die Folgen des Ausmaßes ihrer materiellen Tätigkeit einzuschätzen. Und es ist nicht nur die Einsicht gekommen, sondern es hat sich auch ein Kampf für die Beseitigung der nuklearen Gefahr entfaltet. (...) Insbesondere will ich noch auf Reykjavik eingehen. Das war kein Durchfall, sondern ein Durchbruch. Das waren keine turnusmäßigen Verhandlungen, sondern eine Stunde der Wahrheit, da sich die größte Perspektive ein wenig öffnete, den Weg zu einer Welt ohne Kernwaffen zu betreten. Reykjavik rief eine dermaßen starke Reaktion überall in der Welt deshalb aus, weil wir an das Problem der Reduzierung der nuklearen Arsenale konzeptuell ganz neuartig herangingen - als einem politischen und psychologischen und nicht nur als einem militär–technischen Problem. (...) Die neue politische Denkweise ist berufen, die Zivilisation auf eine qualitativ neue Stufe zu heben. Allein aus diesem Grund schon ist sie keine einmalige Korrektur der Position, sondern eine Methodologie der Führung der internationalen Angelegenheiten. (...) Das Thema der nuklearen Abschreckung hat auch noch einen Aspekt. In der Politik darf man das Problem des Rationalen und Irrationalen nicht vergessen. Besonders in unserer komplizierten Welt, in der der Inhalt dieser Begriffe selbst einem überaus starken Einfluß der Besonderheiten der historischen Erfahrung der Völker, der ziemlich unterschiedlichen politischen Kulturen, Traditionen und vieles anderen ausgesetzt ist. Es ist gar nicht leicht, das alles auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, der für alle ohne Ausnahme rationell ist. Deshalb bleibt auch folgendes eine unumstößliche Wahrheit: Je mehr Kernwaffen, desto größer die Möglichkeit eines verhängnisvollen Fehlers. Nichtsdestoweniger geht die Schaffung immer stärkerer und raffinierterer Waffenarten, die zynisch als exotisch bezeichnet werden, weiter. Die Einmaligkeit, ich würde sagen, das Dramatische der Situation, wird durch die Gefahr unterstrichen, daß das Wettrüsten auf den Weltraum übergreifen kann. Wenn das geschieht, so wird die Idee der Rüstungskontrolle selbst dann in Verruf gebracht. Mißtrauen, gegenseitiger Argwohn, die Versuchung, bei der Stationierung immer neuer Systeme zuvorzukommen, werden rapide zunehmen. Die Destabilisierung wird zur Tatsache und wird einen Krisencharakter annehmen. Das Risiko eines zufälligen Kriegsausbruchs wird sogleich um mehrere Größenordnungen steigen. (...). Vor einem dermaßen maßgeblichen Auditorium will ich erklären: Die Sowjetunion wird ihr Ziel, den nuklearen Versuchen ein Ende zu setzen, eine einschneidende Reduzierung der angehäuften Vorräte an nuklearen Rüstungen und danach deren Vernichtung zu erwirken, nicht aufgeben. (...) Gestatten Sie mir jetzt, auf eine andere sehr bedeutsame Reailität unserer Zeit einzugehen. Sie verlangt ebenfalls eine neue Denkweise. Damit meine ich die nie dagewesene Mannigfaltigkeit, zugleich aber den immer enger werdenden wechselseitigen Zusammenhang und die immer grössere Ganzheit der Welt. Sie wird nicht nur durch die Internationalisierung des Wirtschaftslebens sowie starke Massenmedien und Kommunikationsmittel vereinigt, sondern auch durch die gleiche Gefahr eines nuklearen Todes, einer ökologischen Katastrophe und eines globalen Ausbruchs der Widersprüche zwischen der Armut und dem Reichtum ihrer verschiedenen Teile. (...) Auf dem Treffen in Genf äußerte der Präsident der USA den Gedanken darüber, daß sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion - falls der Erde eine Invasion von Außerirdischen drohen würde, vereinigen werden, um diesen Überfall zurückzuschlagen. Ich will diese Hypothese nicht bestreiten, wenngleich es wohl auch verfrüht ist, sich darüber zu beunruhigen. Wichtiger ist es, uns jenen Besorgnissen zuzuwenden, die bereits Einzug in unser gemeinsames Heim gehalten haben. Der Notwendigkeit bewußt zu werden, die Gefahr eines Nuklearkrieges zu beseitigen, anzuerkennen, daß es kein irdisches oder kosmisches Dach gibt, unter dem man sich verstecken könnte, falls ein nukleares Gewitter ausbrechen sollte. (...) Wir erheben keine Ansprüche auf den Besitz der Wahrheit in letzter Instanz. Wir reagieren bereitwillig auf Vorschläge, die von anderen Ländern, politischen Parteien, gesellschaftlichen Bewegungen und auch Einzelpersonen unterbreitet werden. Die Sowjetunion unterstützte die Idee der Schaffung eines kernwaffenfreien Korridors im Herzen Europas, von kernwaffenfreien im Norden Europas, auf dem Balkan, im Südteil des Pazifiks und in anderen Regionen. Wir sind bereit, Konsultationen über jeden Vorschlag durchzuführen, um nach der besten Variante, die alle zufriedenstellt, zu suchen. (...) Früher strebte das menschliche Denken überstürzt danach, sich die Naturkräfte unterzuordnen. Heute kann das Eindringen in die Natur, ohne daß man alle Folgen im voraus berechnet, sie zu einem Todfeind der Menschheit machen. Die Havarie von Tschernobyl ermahnte uns daran durch die Tragödie von relativ lokalem Ausmaß. Das nukleare Wettrüsten reißt uns unerbittlich zu einer globalen Tragödie hin. Jahrhundertelang suchten die Menschen nach Wegen zur Unsterblichkeit. Man kann sich schwer damit abfinden, daß jeder von uns unsterblich ist, es ist aber unmöglich, sich mit der Endlichkeit der gesamten Menschheit, des menschlichen Verstandes, abzufinden. Leider haben sich viele Vertreter unserer Generation an nukleare Waffen gewöhnt, für viele sind sie zu einer Art Idol des Bewußtseins geworden, das immer neue Opfer fordert. Es gibt auch solche, die das nukleare Wettrüsten nahezu zur Garantie der Erhaltung des Friedens erklären. (...) Meine Herren Genossen! Die Zeit schrumpft gleichsam zusammen in den Maßen, wie die Gefahr einer neuen Runde des Wettrüstens zunimmt, wie auch im Zusammenhang mit der rapiden Zuspitzung regionaler und sogenannter globaler Probleme. Man darf sie nicht mehr für Versuche verschwenden, einander zu überrunden, einseitige Vorteile zu erlangen. Der Einsatz in diesem Spiel ist zu hoch - das Überleben der Menschheit. Darum wird die Berücksichtigung des kritischen Zeitfaktors lebensnotwenig. (...)