: Über Gorbatschows Rede
Berlin (taz) - Globale Szenarien zu entwerfen gehört seit jeher zu den Stilmitteln der politischen Rhetorik. Wenn heutzutage von „neuem Denken“, „geistig moralischen Wenden“ usw. die Rede ist, soll in der Regel jugendliche Frische, Aufbruchstimmung und Optimismus vorgeführt werden. Da in der Sowjetunion die politischen Führer bisher nicht in Wahlkämpfen gekürt wurden, wäre eine derartige Imagewerbung dort allerdings überflüssig gewesen. Das „Neue Denken“, das Gorbatschow in seiner Rede vor dem Moskauer Friedensforum vorgetragen hat, ist in der Tat mehr als Imagepflege, die von den konkreten Aussagen und Plänen ablenken soll. In dem globalen Szenarium, das er jetzt entwarf, sollen die Kategorien des politischen Denkens den in den letzten Jahrzehnten entstandenen technologischen Realitäten angepaßt werden. In dieser fast schnörkellosen Einfachheit ist das bisher von keinem Staatsmann in Ost und West formuliert worden. Die Rückfrage nach den ökonomischen und politischen Interessen ist immer berechtigt und notwendig. Man kann natürlich auch nur nach den Aussagen in Gorbatschows innenpolitischen und wirtschaftlichen Problemen Gründe suchen. Die systematische Bedeutung dieser Rede würde man dadurch aber verfehlen. Denn Gorbatschow hat von fast nichts anderem gesprochen als vom Überleben der menschlichen Gattung. Bedroht sei sie durch den Zusammenschluß einer modernen Technik und einer archaischen Politik. Atomwaffen sind keine Waffen im traditionellen Sinne - die biologischen und chemischen auch nicht, ja nicht einmal die sogenannten „konventionellen“, deren Zerstörungskraft sich inzwischen der der Atomwaffen nähert. Sie vernichten keinen Gegner, sondern die Menschheit. Die Allgegenwart der Vernichtungspotentiale und die sich ständig verringernden Vorwarnzeiten haben die Abschreckungsdoktrin der sechziger und siebziger Jahre obsolet gemacht. Selbst wenn Atomwaffen in jener Zeit einen Dritten Weltkrieg verhindert haben sollten, so können sie heute keinen Schutz mehr vor dem häßlichen Zufall, der Eskalation aus kleinem Anlaß usw. bieten. Das stellt auch die regionalen Konflikte in einen neuen Zusammenhang. Entsetzlich waren Kriege zwar immer schon. Auch die regionalen Konflikte unserer Zeit, wie z. B. der iranisch–irakische Krieg, sind es. Das Neue und Gefährliche an ihnen besteht heute darin, daß sie das atomare Inferno auslösen können. Worin sich Gorbatschow von allen bisherigen Politikern unterscheidet, ist, diese Situation systematisch dargestellt zu haben. Es geht ihm also auch nicht mehr um den „Schutz berechtigter“ Interessen, um Fortschritt, um nationale Würde und Sicherheit, er verwirft also jene Rhetorik, die die archaischen, „konventionellen“ Kriege legitimierte und die noch immer benutzt wird. Das SDI–Programm ist von diesem Gesichtspunkt her tatsächlich von „archaischem Denken“ geprägt. Die Vorstellung, daß die Amerikaner friedlich ihre Rasen mähen können, während der Rest der Welt im nuklearen Winter erstarrt, ist ebenso abartig wie die von Reagan befürchtete Invasion aus dem Weltraum. Das „Neue Denken“ setzt sich also in einen Gegensatz zum Science–Fiction– Denken, in dem archaische Sozial– und Denkformen in hypermoderne technische Gewänder gehüllt werden. Damit stellt Gorbatschow auch eine weitere Neuerung im sowjetischen Denken vor: Das Überleben der Weltbevölkerung ist nicht nur ein militärisches Problem. Die Orientierung auf die ganze Welt öffnet den Blick für jene Probleme, die von Ökonomen und Ökologen zwar schon längst als globale Probleme definiert worden sind, aber noch nie ernsthaft Teil des politischen Handelns wurden. Wenn es schon schwer ist, die Zerstörung des Planeten durch den Atomkrieg aufzuhalten, so erst recht die Lösung der ökologischen Probleme. (Auszüge Seite 7) Erhard Stölting
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