Gorbatschows „Neues Denken“

■ In einer bemerkenswerten Rede vor dem Moskauer Friedensforum „Für eine atomwaffenfreie Welt“ fordert der Generalsekretär das Ende der atomaren Abschreckung / Offene Diskussion auf dem Kongreß

Selbst über die Fernsehschirme des DDR–Fernsehens flimmerte gestern vormittag Gorbatschow, als er seine große Abrüstungsrede vor dem Moskauer Friedensforum hielt. Er malte ein dramatisches Bild der möglichen Konsequenzen eines Atomkriegs und formulierte das Ziel einer grundsätzlich abgerüsteten, zivilisierten Welt. Erstmals sprach er die schwierige Lösung ökologischer Probleme an. Erich Rathfelder war in Moskau einer von rund 900 Teilnehmern des dreitägigen Kongresses. Beim Forum „für eine atomwafenfreie Welt“ trat erstmals der jüngst aus der Verbannung entlassene Friedensnobelpreisträger Sacharow auf und hatte die Möglichkeit, ohne Redezeitbegrenzung zu sprechen. Petra Kelly und Gert Bastian von den Grünen setzten sich demonstrativ zu Sacharow

Moskau (taz) - „Wissen Sie“, empfängt mich der erste Sowjetbürger, den ich sprechen kann, nachdem ich die Zoll– und Polizeibarrieren endlich überwunden hatte, „wir können nun sogar über Mystik reden. Was hier vorgeht, gibt mir als Intellektueller Hoffnung, ich kann jetzt etwas ausdrücken, wovon ich vor vier Wochen noch nicht zu träumen wagte.“ Als ich ihm darüber berichte, daß an der Grenze alle meine Bücher einer peinlichen Durchsuchung unterzogen wurden, daß extra eine Dolmetscherin die Stellen übersetzen mußte, die ihr der Kontrolleur unwirsch zeigte, deutet er doch darauf hin, daß ich die Bücher nicht abgenommen bekam. „Das ist doch schon ganz gut“, erklärt er in fast akzentfreiem Deutsch und blickt dabei schnell um sich. „Entschuldigen Sie, wir fallen schon auf, ein zu langes Gespräch mit einem Ausländer, Sie verstehen, das ist man hier noch nicht gewohnt“, und verschwindet im Gewühl. „Widersprüchlich“ sei das neue Lebensgefühl in Moskau, wissen die zu berichten, die hier als Ausländer heimisch sind. Da registriert man den Run auf die Zeitungen, die in den U–Bahnen ausführlich gelesen werden, da ja gen sich die Informationen über neu eröffnete freie Ausstellungen, da versucht man die raren Karten für den Film „Die Reue“ oder die neuen Theaterstücke zu ergattern und freut sich über Fernsehdiskussionen, wie sie vorher undenkbar waren. Gerüchte über die bevorstehende Erlaubnis zur Gründung freier Verlage und für Schriftsteller freie Publikationsmöglichkeiten im Westen gehen um. Doch wer zum Einkaufen geht, sieht bei dem mageren Angebot noch keinen Wandel, und wer mit der Bürokratie zu tun hat, stöhnt nach wie vor über die Hindernisse und die Bestechungspreise. Und auch, daß vor dem großen internationalen Kongreß am Wochenende einige Devisenbars in den Hotels auf Rubelwährung umgestellt wurden, ist für die meisten Moskauer keine Freude. Denn ohne Hotelausweis hat man zu diesem Vorteil keinen Zutritt. Freie Diskussion auf dem Forum in Moskau Als das Forum „Für eine atomwaffenfreie Welt, für ein Überleben der Menschheit“ in Moskau am Samstag eröffnet wurde, gab es wohl niemanden unter den neunhundert geladenen hochkarätigen Gästen, der nicht mit Unsicherheit und skeptischer Erwartung in die sowjetische Hauptstadt gekommen wäre. Und obwohl die sowjetische Öffentlichkeit limitiert blieb, begann sich dieses Gefühl schnell zu legen: Mit jeder Diskussion entwickelte sich eine Dynamik, die zu einer freieren Atmosphäre auf dem Kongreß führte. Und selbst die Organisatoren, die anfänglich noch um die Minuten für die Diskussionsteilnehmer zu ringen schienen, zeigten sich bald konziliant. Hieß es am Anfang noch, Andrej Sacharow dürfe nur zwei Minuten reden, sprach man zwei Stunden später von fünf Minuten und kurz danach war von Redezeitbegrenzung keine Rede mehr. Auch die Presse bekam größeren Spielraum. Und die Symbolgestalt der sowjetischen Menschenrechtsbewegung nahm die Gelegenheit wahr, seine Position auch darzustellen. Begegneten ihm am Samstag auch westliche Teilnehmer noch in verkrampfter Atmosphäre, so löste sie sich am zweiten Tage sichtlich. Sacharow begann zu strahlen. Am Sonntag hatte er ausführlich zum SDI–Projekt und zu seiner Kritik an der sowjetischen Verhandlungsposition Stellung bezogen. Er trat ein für das Aufschnüren des „Bündels“, für Abrüstungsverhandlungen. SDI dürfte nicht zur Hürde für die Abrüstungsinitiative werden, wenn er auch das amerikanische Projekt verdammte und es als „destabilisierend“ bezeichnete. Petra Kelly demonstrativ bei Sacharow Daß der Nobelpreisträger wieder lachen konnte, war nicht zu letzt das Verdienst von Petra Kelly und Gerd Bastian, die sich am ersten Tag der Veranstaltung demonstrativ neben den alleinsitzenden Sacharow setzten und auch in ihren Redebeiträgen über die „wissenschaftliche Zielsetzung der Arbeitsgruppe“ hinausgingen. Da konnten auch Sowjetbürger staunend registrieren, daß die Wahrung der Menschenrechte, der Abbau der Atomindustrie und der Pazifismus Abrüstungsver– einbarungen zwischen den Weltmächten einander ergänzen müßten. Und indem die beiden mit menschlicher Wärme bewußt die Grenzen der Veranstaltung überschritten, trugen sie dazu bei, dem gesamten Forum eine neue Dynamik zu verleihen. Polizei gegen Demonstrantinnen „Die Zivilpolizisten in der Arbatstraße schlugen auf die demonstrierenden Frauen ein und zielten immer wieder auf die Nieren, die Polizisten in Uniform griffen nicht ein und die Presseleute standen machtlos da, wie kann man da von Öffnung sprechen. Hier verändert sich gar nichts“ ist die Meinung eines amerikanischen Pressemannes. Und tatsächlich: Die Meldungen über das brutale Vorgehen der Zivilen, ob sie nun vom KGB oder von anderen Stellen kamen, beherrschten die Schlagzeilen vor allem der US–Presse. Nicht mehr über den Kongreß wurde berichtet, sondern über die Vorfälle am Arbat. Mit der Nachricht, daß Jossif Begun, für den die Frauen demonstierten, nun doch, ohne daß dieser ein Gnadengesuch zu stellen habe, freigelassen wird, hat die sowjetische Führung nachgegeben. Ist dieser Schritt nur taktisch, oder bedeutet er die Freilassung der noch in Haft befindlichen politischen Gefangenen? Offensichtlich war das Vorgehen der Ordnungskäfte der Führung nicht angenehm, doch drückte sich noch am Donnerstag Regierungssprecher Gerassimov um die Benennung der Verantwortlichen herum. Indem er von „Schlägereien“ sprach, in die die Demonstrantinnen verwickelt waren, ließ er Spekulationen offen, ob in diesem Falle nicht Widerstände gegen den Reformkurs sichtbar wurden. Denn wenn die Polizeiführung, wie es hieß, Anfang der Woche die Losung ausgab, die Demonstrantinnen gewähren zu lassen, dann ist die Frage wohl berechtigt, warum dann unter den Augen der gesamten Weltpresse es zu solchen Szenen kommen konnte. War es ein Zusammenspiel der „Konservativen“ im Sicherheitsapparat mit den amerikanischen Massenmedien, denen eine weitreichende Reform in der Sowjetunion nicht für machbar oder gar für nicht wünschenswert erscheinen? Die auch von Passanten mit antisemitischen Beschimpfungen belegten jüdischen Aktivistinnen werden danach nicht mehr fragen: Sie haben eines ihrer Ziele wohl erreicht, die Freilassung von Jossif Begun. Erich Rathfelder