Der Dichter Sciascia und die Mafia

■ In Sizilien haben Sciascias Äußerungen über die Mafiabekämpfung heftige Proteste ausgelöst / Ist Sciascia mafios, oder geht es um etwas anderes / „Sicilianita“ bedeutet den Inselbewohnern Kampf gegen die Unterdrücker aus dem Norden, im restlichen Italien meint man damit Rückständigkeit und Mafiosität

Aus Rom Werner Raith

In Italien legt eine Polemik des Schriftsteller Leonardo Sciascia eine Krise der „Sizilianität“ bloß. „Wenn er auf tausend Kilometer ein Fettnäpfchen witter“, urteilt Italiens Starkomiker Beppe Grillo, „dann muß er hin und hineintreten.“ Es hat wieder gewittert - aber diesmal mußte er nicht weit laufen, er fand den Napf sozusagen direkt vor der Haustür. Leonardo Sciascia, 65, Siziliens bekanntester lebender Schriftsteller (“Der Tag der Eule“, „Die Affäre Moro“), hat sich in den Ruch der Mafia–Freundschaft gebracht. „Früher hat man mit Hilfe der Mafia Karriere gemacht“ schrieb er in einem Artikel der Tageszeitung Corriere della sera, „heute wird man Bürgermeister oder Generalstaatsanwalt, indem man sich opportunistisch in die Antimafia–Bewegung einreiht.“ Auslöser war die Beförderung des Ermittlungsrichters Paolo Borsellino aus dem sogenannten „Antimafia Pool“ Palermos zum Chef der Staatsanwaltschaft Marsala in Westsizilien. Sciascia findet, daß es dienstältere und amtserfahrenere Juristen für das Amt gegeben hätte. Italiens Medien griffen die Polemik dankbar auf - derzeit passiert nicht allzuviel im Land. Sciascia hatte sich schon immer im Alleinbesitz der besten Rezepte zur Gesundung der Insel gewußt und sich speziell von Nichtsizilianern jede Einmischung verbeten. „Der Mann aus Piemont hat Null Ahnung von der Insel“, hatte er gemeckert, als die Regierung den erfolgreichen Terroristen–Jäger dalla Chiesa zum Antimafiakampf nach Palermo schickte. Da der oberste Richterrat in Rom für die Beförderung des Staatsanwalts verantwortlich ist, deutete Sciascias Schelte zunächst auf die x–te Neuauflage des alten Nord–Süd–Konflikts hin: „Richter und Politiker gelten den Insulanern als Symbol zentralistischer Repression“, bemerkte die Tageszeitung La Repubblica, „die sicilianita läßt grüßen“. Die „Sizilianität“ „Sicilianita“ also - jener Sammelbegriff, „unter den so ziemlich alles und sein Gegenteil einzuordnen ist, was einem an den Sizilianern ge– oder miß–, jedenfalls aber auffällt“, wie der Sprachforscher Franco Lo Pipero von der Uni Palermo urteilt: „Sicilianita“ ist den Festländern Verschlagenheit, Rückständigkeit, Sturheit - und natürlich Mafiosität. Die Sizilianer stattdessen begreifen sie als Frucht jahrtausendelangen Kampfes gegen Unterdrücker, von den Phöniziern, Griechen, Römern über die Vandalen, die Staufer, die Anjou bis zu den Bourbonen und, nach der Reichseinigung im vorigen Jahrhundert, den Piemontesen: Besatzer, die zwar jeweils die vorangehenden hinausgeworfen, dabei selbst aber nur noch mehr Ausbeutung gebracht hatten. Familienzusammenhalt, Verschwiegenheit, Unterordnung unter den „ehrenwerten“ Dorfhonoratior (und nicht den Vertreter des Staates) sind auf dieser Sizialianität gewachsen - Nichtinsulaner sehen genau darin meist die Wurzeln der Mafia–Macht. Doch das erwartete hundertste Match Nord gegen Süd blieb aus. Diesmal gerieten sich die Südstaatler untereinander in die Haare. Der „Coordinamento antimafia“, in dem Politiker, Publizisten und Angehörige von Mafia– Opfern mitarbeiten, warf Sciascia vor, „das Spiel der Mafia zu betreiben“; der Abgeordnete Mannino vermutete, daß „da jemand Sciascia instrumentalisiert“, und der Ermittlungsrichter Di Lello aus Palermo schimpfte auf Sciascia gar mit dessen eigenen Worten: „Er hat von den hiesigen Problemen keine Ahnung.“ Nicht minder laut tönt aber auch der Chor der Sciascia–Verteidiger. Einig sind sich zwar alle, daß sich der umbequeme Dichter mit dem Ermittlungsrichter Orlandi den Falschen herausgegriffen hat. „Doch daß bloßer Antimafia– Kampf noch nicht unbedingt ein Markenzeichen für aufrechte Gesinnung und schon gar nicht für die Lösung aller Inselprobleme ist, gilt uneingeschränkt“, erklärte der landesweit geschätzte Anwalt Antonio Scorgi. Selbst der Staatsanwalt des Mafia–Prozesses, Giuseppe Ayala, will Sciascias Worte „sehr genau bedacht“ haben: „Es gibt ihn nämlich, den Antimafia– Karrieristen.“ Schöne Beispiele dafür sind die bisherigen „Hochkommissare zur Koordinierung des Antimafia– Kampfes“: Der erste, De Francesco, gab gerne Interviews, verschwand aber stets, wenn es in Sizilien krachte. Die Presse fragte nach Mafia–Morden nur noch: „Und De Francesco? Wieder mal auf der Flucht?“ Von seinem Nachfolger Riccardo Boccia hieß es, er habe so große Ohren, damit er ja kein Angebot für einen neuen Posten überhöre - tatsächlich nahm er die erste Offerte an und verschwand auf eine Industriestelle weitab von Sizilien. Zwar wird nicht mehr jeder als „Inselverräter“ niedergebrüllt, der etwas gegen die Mafia sagt. Vorbei sind auch die hoffnungsfrohen Zeiten, in denen Witwen, Mütter und Schwestern von Mafia–Opfern die „Associazione donne siciliane contro la mafia“ gründeten und der „Centro Impastato“ in Plastikaktionen vertuschte Morde anprangerte und das Zusammenspiel von Politikern und Gangsterorganisationen denunzierte. Zurück zur Friedhofsruhe Sciascia hat den wunden Punkt gewittert: die Antimafia–“Kultur“ hat sich nicht in der „sicilianita“ einnisten können, sie ist eine Anti–Bewegung geblieben, oberflächlich und erfolgreich nur, solange die Repression funktionierte. Belege dafür gibt es genug. Seit der zeitweilige Waffenstillstand unter den Clans Ende 1986 verflogen ist und es wieder reihenweise Tote auf der Insel gibt, suchen Dutzende von Staatsanwäl ten und Richtern das Weite - vor allem solche, die noch vor zwei Jahren alles getan hatten, um in den „Antimafia–Pool“ zu kommen. Und als sich die als Zeugen geladenen Minister Andreotti, Spadolini und Rognoni nicht in Palermo, sondern in Rom vernehmen ließen, regte sich nur auf dem Festland, nicht aber in Palermo Protest gegen den ostentativen Abstand zum Kampf gegen die Mafia. Im Grunde wollten die meisten Sizilianer offenbar etwas Ruhe vom Lärm der Mafia–Maschinenpistolen; von der neuen „Kultur“ sehen sie nur die Polizeieskorten der Richter (es gab bereits drei Tote durch ihre Raserei), tägliche Kontrollen und die vielen Razzien. Und die gehen ihnen auch auf die Nerven. Verschwunden sind denn auch all die Überlegungen im Anschluß an das Attentat auf den Präfekten dalla Chiesa, als die Ermordung seiner Frau den ideologischen Schleier zerrissen hatte, die Mafia töte nur Feinde. Da hatten Studenten und Frauengruppen, Gewerkschafter und Schüler die „Werte der großen sizilianischen Tradition vor der Zersetzung durch die Mafia“ propagiert, „kulturelle Autonomie und nicht nur malerische Folklore“, die Vermittlung zwischen Orient und Okzident, die Friedensstiftung im Mittelmeer“ (so die Bürgerinitiative „Eine Stadt für Menschen“). Da hatten Schulklassen über „Palermo, wie ich es mir wünsche“ geschrieben. War das alles umsonst? Viele Sizilianer sind offenbar bereit, sich wieder mit der Mafia zu arrangieren. Sciascia erhält dabei sicherlich viel Beifall von der falschen Seite - Mafiosis sind zweifellos dankbar für die Kriegserklärung des Dichters, denn der wird wohl nie klarmachen können, daß er nur ein altes Motto wieder aufgenommen hat, mit dem er 1978 während der Entführung Aldo Moros seinen gleichen Abstand von staatlicher wie gegenstaatlicher Gewalt ausgedrückt hatte: „Weder mit den Roten Brigaden noch mit dem Staat“, war seine Losung damals, mit „Weder mit der Mafia noch mit dem Staat“ versucht er es heute. In weniger polarisierten Zeiten wäre das vielleicht tatsächlich eine alternative Formel für die „sicilianita“. Derzeit, so vermutet jedenfalls Komiker Beppe Brillo, gilt in Sizilien eine andere Version des Sciascia–Spruchs: „Mit dem Staat - und mit der Mafia“.