Atempause im Lagerkrieg

■ Lebensmittellieferungen und Kämpfe in Westbeirut brachten eine vorübergehende Lockerung der Situation um die palästinensischen Flüchtlingslager / Dreihundert geflohene Frauen und Kinder Gefangene der Amal

Aus Beirut Joseph Kaz

Die jüngsten Nahrungsmittellieferungen für die Palästinenserlager im Südlibanon und in Beirut waren erst möglich geworden, nachdem eine wesentliche Forderung der Schiitenmiliz Amal erfüllt war: Ihre Milizionäre sind wieder in das Christendorf Magdousheh bei Saida eingezogen, das im November von palästinensischen Kämpfern erobert worden war. Die Lebensmittellieferungen für die Lager und die Lockerung der Blockade von Raschediyeh markieren lediglich eine Atempause in diesem palästinensisch– schiitischen Krieg. Die relative Ruhe rings um die Lager hängt auch mit den seit Sonntag immer wieder aufflammenden Kämpfen zwischen Amal, Drusen und der Kommunistischen Partei in Westbeirut zusammen. Ein Ende des Lagerkrieges und des Leidens der nach wie vor eingeschlossenen Bevölkerung ist damit noch nicht in Sicht. In Raschediyeh konnten Alte, Frauen und Kinder am Sonntag zum ersten Mal seit 138 Tagen das Lager verlassen und in die nahegelegene Stadt Sur (Tyrus) einkaufen gehen. Die jungen Männer wagen sich jedoch nicht aus dem Lager, weil sie befürchten, festgenommen zu werden. Daran ändert auch die Präsenz von UNO–Beobachtern, hohen iranischen Verantwortlichen und Amal–Führern nichts - ein Zeichen für die anhaltende Spannung. Denn trotz der Atempause stehen die Zeichen auf weiteren Kämpfen, vor allem bei Amal. Die Miliz kontrolliert genau, wer in den sechs Stunden, in denen die Bevölkerung das Lager verlassen darf, hinaus– oder hineingeht. Abgesehen von zwei kleineren Lagern, ebenfalls bei Sur gelegen, erhielt auch Borj al Brajneh in Südbeirut Nahrungsmittelnachschub. Nach Angaben ausländischer Ärzte und Krankenschwestern im Lager reicht er nur für vier Tage. Die rund 20.000 Bewohner, die bereits Hunde und Katzen gegessen haben, mußten das Warten auf den Lebensmittelkonvoi teuer bezahlen. Eine Granatensalve tötete fünf der Wartenden, und bei zehn weiteren mußten die Beine amputiert werden. Eine Lieferung von Medikamenten war von Amal nicht gestattet worden, obwohl die britische Ärztin Pauline Cutting dies nachdrücklich gefordert hatte. Unterdessen ist die Belagerung von Borj al Brajneh verstärkt worden. 300 Frauen und Kinder, die vor der Hungersnot im Lager geflohen sind, werden von Amal– Milizionären in einer nahegelegenen Schule gefangengehalten. Die Milizionäre haben gar auf abgemagerte Zivilisten das Feuer eröffnet, die zu fliehen versuchten. Über geplante Lebensmittellieferungen an das kleine Lager Shatila, das ebenfalls eingeschlossen und weitgehend zerstört ist, ist bisher nicht die Rede. Ein Verantwortlicher des Lagers für soziale Angelegenheiten kritisierte am Montag in einem Funkgespräch das Aussparen Shatilas mit seinen 3.500 Einwohnern. „Wenn unsere Lage auch weniger dramatisch ist als die in Raschediyeh, fehlt doch Milch für die Kinder, fehlen frische und saubere Nahrungsmittel, im Krankenhaus sind Medikamente knapp, und die Hölle geht weiter, ohne daß sich eine Stimme erhebt, um die Last unserer Verzweiflung zu mildern.“ Der anhaltende Druck der mit Syrien verbündeten Amal auf die Beiruter Lager legt deren politische Absichten offen. Für Drusenführer Walid Junblatt bleibt „die Liquidierung der menschlichen und militärischen palästinensischen Präsenz“ ein „prioritäres Ziel“ von Amal und Syrien, dem er sich nachdrücklich widersetzen werde. „Der Kampf wird lange dauern. Alle Mittel werden eingesetzt werden, um das Ziel, die Übergabe der Lager in Beirut, zu erreichen, allen voran Beschuß und Hunger,“ erklärte er. Junblatt geht davon aus, daß auch seine Drusenpartei zunehmend ins Schußfeld gerät, da er sich geweigert hatte, am „Blutbad“ mitzuwirken. Junblatt rechnet mit einem allgemeinen Aufflammen der Kämpfe in Beirut, wobei Syrien versuchen werde, seine Drusen–Milizen wie auch die der Linken und Sunniten mattzusetzen beziehungsweise zu vertreiben. Für Junblatt ist der Ausgang der „Schlacht um Beirut“, eine Folge des Lagerkrieges, nicht abzusehen. „Wir werden kämpfen“, kündigt er abschließend an, „Zwischen der Beiruter Bevölkerung, die unterworfen werden soll, und den Menschen in den Lagern, die man vertreiben will, gibt es eine Osmose.“ Einen Vorgeschmack auf möglicherweise bevorstehende Ereignisse erhielten die Einwohner Westbeiruts bereits in den letzten Tagen. Seit Sonntag flammen immer wieder zum Teil heftige Kämpfe zwischen Amal auf der einen und der Kommunistischen Partei und den Drusen auf der anderen Seite auf. Allein in der Nacht zum Dienstag kamen dabei 17 Menschen ums Leben, 80 wurden verletzt. Mehrere Dutzend Gebäude im Zentrum der Stadt standen in Flammen. Die Zeiten, in denen Amal, die Drusen und die linken Parteien zu den syrischen Verbündeten im Libanon zählten, sind endgültig vorbei.