: Bundestag ohne grüne Vizepräsidentin
■ Konstituierende Sitzung des Bundestages in Bonn / Jenninger bleibt Bundestagspräsident / Brandt appelliert an Geiselnehmer im Libanon / CDU–Seiters an die Grünen: „Sie gehören nicht in dieses Parlament!“
Aus Bonn Matthias Geis
Auch in der nächsten Legislaturperiode wird es keine grüne Vizepräsidentin geben. Auf der konstituierenden Sitzung des 11. Deutschen Bundestages am gestrigen Mittwoch wurde der von Grünen und SPD eingebrachte Antrag auf Erweiterung des Präsidiums um einen Stellvertretersitz mehrheitlich abgelehnt. Damit war die Kandidatur der grünen Abgeordneten Christa Nickels praktisch gescheitert, da keine der bisher im Präsidium vertretenen Fraktionen zugunsten der Grünen auf einen Sitz verzichten wollte. Der bisherige Präsident Philip Jenninger wurde mit 393 Stimmen bei 89 Gegenstimmen wiedergewählt. Seine Stellvertreter Renger und Westphal (SPD), Cravenburg (FDP) und Stücklen (CSU) wurden bestätigt. Christa Nickels lag mit 119 Stimmen weit hinter der erforderlichen Mehrheit. In einer zeitweise äußerst scharf geführten Auseinanderset zung hatte der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU– Fraktion, Seiters, den Grünen die Demokratiefähigkeit abgesprochen und ihren Anspruch auf Vertretung im höchsten parlamentarischen Leitungsgremium zurückgewiesen. Wer zu Volkszählungsboykott, Blockadeaktionen und sonstigen strafbaren Handlungen aufrufe, wer einen Abgeordneten zum Fraktionssprecher wähle, der die Anwendung von Gewalt bei der Durchsetzung seiner politischen Ziele nicht ausschließe - so Seiters - gehöre nicht in dieses Parlament. Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Hubert Kleinert, meldete in seiner Erwiderung Zweifel an Seiters Demokratieverständnis an und bezeichnete dessen Strategie gegenüber den Grünen als „Ausgrenzen, Wegdrücken, vor die Tür setzen“. Antje Vollmer vertrat in ihrer Antragsbegründung die Auffassung, daß ein mehrheitlich von den Regierungsfraktionen gestelltes Präsidium dem Kontrollauftrag des Parlaments widerspreche. Es sei eine Frage der demokratischen Kultur, ob eine von über drei Millionen Menschen gewählte Fraktion zu Abgeordneten zweiter Klasse gemacht würde. Vollmer appellierte an die Gewissensfreiheit der einzelnen Abgeordneten und forderte sie auf, sich in einem „Stück zivilen Ungehorsams“ gegen den Fraktionszwang zu entscheiden. Der SPD–Abgeordnete Schmude sprach von einem „guten parlamentarischen Brauch“, allen im Bundestag vertretenen Fraktionen einen Präsidiumssitz zu gewähren. Auch Willy Brandt, der sich als Alterspräsident des 11. Bundestages „nicht den Mantel der Überparteilichkeit umwerfen“ wollte, forderte in seiner Ansprache „gleiche Chancen der Mitwirkung“ aller Bundestagsfraktionen. Abgeordnete höheren oder niederen Ranges seien demgegenüber in der Verfassung nicht vorgesehen. Brandt, der sich in seiner Eröffnungsrede für Völkerverständigung, Toleranz zwischen den Religionen und die Verantwortung der Industriestaaten gegenüber den unterentwickelten Ländern aussprach, appellierte an die Geiselnehmer im Libanon, ihre Gefangenen freizulassen. Weiter erinnerte er an die südlibanesischen Palästinenser, die seit Monaten von jeder Versorgung abgeschlossen seien. Es sei unerträglich, wenn unschuldige Menschen zu Opfern der Politik würden. Zur Entwicklung in der Sowjetunion meinte Brandt, dort habe „ein erregender Prozeß von Reformen begonnen, der wahrhaft umwälzenden Charakter“ habe. Hieraus könnten sich neue geschichtliche Perspektiven ergeben; eine „seriöse Erprobung des politischen Gegners“ sei besser als die „Erprobung immer neuer Zerstörungsmittel“. Schon zu Beginn der Sitzung waren die Grünen mit einem Antrag gescheitert, eine Debatte über die Zustände in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon zu führen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen