Kino für den Frieden

■ Peter Watkins 15–Stunden–Film „The Journey“ über die Militarisierung der Welt / Tom Janssen berichtet

Mit Martin Scorseses „The Color of Money“ werden heute abend die 37. Internationalen Filmfestspiele eröffnet. Ungefähr 600 Filme wollen gesehen werden. Wichtigstes Ereignis des Wettbewerbs: Bisher zurückgehaltene sowjetische Filme (siehe Berlinale–Seiten). Höhepunkt des Forums ist Peter Watkins Mammutfilm „The Journey“. Drei Jahre dauerten die Vorbereitungen, immer wieder unterbrochen von der frustrierenden und zeitraubenden Suche nach Geld: Schließlich finanzierten Friedens– und Alternativgruppe, Grün–Alternative und unabhängige Filminstitutionen das Projekt.

Wenn die Leinwand hell wird, sehen wir Bilder einer Atomwaffenfabrik. Ruhig erläutert eine Stimme die technischen Zusammenhänge. Die Firma, ihr Chef und ihr Pressesprecher (“Eigentlich sind wir keine richtige Rüstungsfirma, wir arbeiten auch für den Frieden“) werden präzise genannt. Die statischen Schwarz– Weiß–Fotografien blenden über in eine farbige Totale einer lieblichen schottischen Landschaft, an deren Bildhorizont kaum wahrnehmbar ein Lastwagen auftaucht. Während dieser auf uns zurollt wird erläutert, daß hier ein NATO–Flugplatz gebaut wird. Ein harmonischer Schnitt versetzt uns in die Diskussion einer lokalen Anti–NATO–Gruppe, die auf zwei Spaziergänger im Friedenspark von Hiroshima überblendet, die sich wie beiläufig über die Katastrophe des August 1945 unterhalten. Dazu erklingt ein gälisches Lied, das durch den Kommentar abgelöst wird: „Dieser Film handelt von Systemen, Systemen, denen wir alle unterworfen sind.“ Peter Watkins fünfzehnstündige Reise ins Herz des Ungeheuers der Militarisierung unserer Welt hat begonnen. Watkins versucht sich in der Quadratur des Kreises. Gleichermaßen intellektuell wie emotional zeigt und analysiert der ebenso berühmte wie verfemte britische Filmemacher die Vernetzung des militärisch–industriellen Komplexes von den USA bis zur Sowjetunion. Blockstandpunkte werden dabei nicht vermittelt. Zwar wird im Verlauf des Films immer deutlicher, wie sehr gerade die USA an der Rüstungsschraube drehen, aber auch der militärisch–industrielle Komplex in der Sowjetunion wird unheimlich illuminiert: von Afghanistan bis hin zur Unterentwicklung im eigenen Land zugunsten der Rüstungsindustrie. Auch die unserem Gesichtsfeld beinah entschwundenen Atommächte Frankreich und Großbritannien werden bestürzend und einsichtig in die atomare Industrialisierungsschraube eingeordnet. Verwoben ist das mit der neuen Medienpolitik des Fernsehens, dem neben Militarisierung und Unterdrückung Watkins ganzer Haß gilt. Der Haß des Mannes, der einmal beim Fernsehen seine Laufbahn begann. Watkins zeigt das Fernsehen als Zensur– und Manipulationsinstrument, das die Welt im Fünf–Sekunden–Takt in Trümmer zerschlägt. Trümmer, die die Welt der Zertrümmerung im großen Krieg vorwegnehmen und die kleinen Kriege propagandistisch begleiten. Nirgendwo ist die bewußtlosmachende abgehackte Bilderflut zur Zeit hektischer als in den Nachrichtensendungen des irakischen und iranischen Fernsehens. Watkins bringt dabei das anrührende und spannende Kunststück fertig, sich angesichts dieser Tatsachen nicht in besinnungslosen Pazifismus zu flüchten, sondern den kleinen, alltäglichen Widerstand gegen Militarisierung und weltweite Manipulation von Informationen deutlich zu machen. Diese Hoffnung wird - ein weiteres Indiz für Watkins radikalen Humanismus - ohne Illusionen vermittelt. Für mich waren jene Sequenzen am bestürzendsten, in denen nüchtern und mit nachhaltiger Trauer an die Mitverantwortung der Opfer erinnert wird. Eine Japanerin, Überlebende von Hi roshima: „Was wußten wir wenig, wie entsetzlich trugen wir zur Politik unserer Militärkaste bei.“ Geradezu unerträglich wird diese Spannung, wenn der Film immer wieder daran erinnert, daß selbst die Opfer der Opfer heute noch ausgeschlossen werden: Im Friedenspark von Hiroshima darf auch heute noch kein Denkmal für die beim Atombombenabwurf umgekommenen koreanischen Zwangsarbeiter aufgestellt werden. In „The Journey“ gibt es eben keine bequeme Aufteilung der Welt in unschuldige Opfer und dämonische Täter. Diese Spannung aber gerade ist es, die ein weiteres kleines Wunder dieses Films bewirken: Uns schon längst überdrüssige Bilder von Hiroshima, aber auch von der Belagerung Leningrads und der Bombardierung Hamburgs im Sommer 1943 erhalten ihren ursprünglichen Schrecken zurück. „Bilder aus dem Dritten Weltkrieg“ nennt Watkins sie bitter. Während dieser Reise werden Menschen aus zwölf Nationen interviewt. Es wird die Vorbereitung des unseren Planeten vernichtenden atomaren Krieges in den kleinen Bürgerkriegen überall gezeigt. Zusammenhänge, um die wir wissen, die wir jedoch aus Selbstschutz verdrängen, werden behutsam aber dafür umso intensiver über Bilder, Gesichter, Sprechen vermittelt. Sicher, der oft pädagogische Impetus stört vor allem am Anfang. Watkins im tieferen Sinne des Wortes Heiliger Ernst und eine manchmal aufblitzende gallige Ironie Swiftschen Ausmaßes bewahren den Film vor wohlfeiler Pädagogisierung oder jenem unerträglichen Oberlehrertum mancher Vertreter der Friedensbewegung. Im Panorama der Gesprächspartner, denen Watkins Zeit läßt zum Sprechen, zum Zögern und zum Nachdenken und die uns so beängstigend nahe kommen ohne zum beliebten Nachbar der Menschheitsfamilie zu verkommen, macht Watkins vor allem eines deutlich: Der Große Krieg hat seine vergiftenden Wurzeln in der Unterdrückung der Frauen durch die Männer; in der Unterdrückung der Dritten Welt durch die Industrienationen; im alltäglichen Rassismus und all den lokalen Kriegen, die wir vom Iran/Irak bis nach Afghanistan und Ost–Timor in unserer Medienüberflutung und unserer Alltags–Verzagtheit verdrängen und vergessen. Peter Watkins ist mit seinem fünfzehn Stunden Film etwas so Außergewöhnliches gelungen, daß wir dessen Folgen für ein zukünftiges politisches Filmemachen noch gar nicht absehen können. Sicher wird der Film allein wegen seiner Länge auf Kritik stoßen. Auch die Komplexität des Films wird als naives Welterklärungsmuster abgelehnt werden. Eins ist jedoch gewiß: Es ist eine gefährliche aber auch heilsame Reise, zu der er uns mit diesem grandiosen Film einlädt. Ein Film, der intellektuellen Mut und viel Geduld hinsichtlich der Zurückeroberung des naiven Sehens, das uns das Fernsehen raubte, verlangt. Ein Film, der keinen billigen Optimismus verbreitet und der uns gerade deswegen die Perspektiven eines bitteren, wissenden und zähen Widerstandes eröffnet. Ich selbst konnte mit Kollegen die Erfahrung machen, daß sie während der ersten drei Stunden ob seiner Pädagogik und Länge schimpften. Einige verließen die Vorführung. Die, die blieben, formulierten später, daß der Film wegen seiner Argumentation und seiner Bilder sie mehr und mehr in ihren Bann gezogen hat.