Gorbatschow will Reformtempo beschleunigen

■ Sowjetischer Parteichef spricht von „weisem“ Vorgehen / Aufforderung an die Bürger nach „mehr Handlungen“ / Lettische Gemeindewahlen als „Test“ geheimer Wahl und offener Diskussion / Rolle der Presse wächst: Mißstände in Betrieben aufgedeckt

Berlin (taz) - „Mit eiserner Hand“ solle er durchgreifen, um den Reformkurs durchzusetzen, forderte ein Journalist von Parteichef Michail Gorbatschow bei einem Treffen mit sowjetischen Journalisten am Freitag voriger Woche. Die Aufforderung wirft ein Schlaglicht auf die schwierige Situation, in der Gorbatschow sich befindet. Würde er die Widerstände gegen seinen Kurs mit der geforderten „eisernen Härte“ begegnen, könnte er die Inhalte und Intentionen seines Kurses begraben. So ist es denn auch kein Zufall, wenn in der neuesten Ausgabe der Moskow News der Leitartikler und Gorbatschow–Anhänger Jakowlew schreibt: „Gorbatschow war damit nicht einverstanden, man braucht keine eiserne, sondern eine weise Hand“. Sollte diese Politik der „weisen Hand“ in zwei bis drei Jahren keinen Erfolg zeigen, deutete Gorbatschow seinen Rücktritt an. Jetzt setzt er zuallererst auf seine Überzeugungskraft. So forderte er am Donnerstag die Sowjetbürger eindringlich dazu auf, an den politischen und wirtschaftlichen Umgestaltungen im Land aktiv teilzunehmen. Vor den Partei– und Wirtschaftsführern der Republik Lettland sagte er, die Beschäftigten in Partei, Wirtschaft und Sowjets sollten mit konkreten Handlungen beginnen. Es gehe nicht mehr „um kosmetische Maßnahmen, sondern um tiefgreifende Prozesse unseres Lebens.“ Alles, was seit dem letzten Parteitag an Veränderungen unternommen werde, müsse bei der Partei anfangen, betonte Gorbat schow. Schlüsselfragen der Umgestaltung sollten bei der Allunionskonferenz im nächsten Jahr - die höchste Konferenz der Partei zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Parteitagen - erörtert werden. Und dort will Gorbatschow offensichtlich die Beschlüsse nachholen, die auf der letzten ZK–Tagung Ende Januar durch den Widerstand vieler Funktionäre nicht zustandegekommen waren: Innerparteiliche geheime Wahlen mit mehreren Kandidaten, die aus den Körperschaften vorgeschlagen werden sollen und nicht wie bisher von oben diktiert sind, offene Diskussionen innerhalb der Partei und Ausdehnung dieser neuen Struktur auf andere Bereiche der Gesellschaft. Daß Gorbatschow das Reformtempo beschleunigen will, zeigt sein Vorschlag in Lettland, schon in den nächsten Monaten bei den Gemeindewahlen in einigen Regionen diese neuen Strukturen zu „testen“. „Wir müssen lernen, unter den Bedingungen der Demokratie zu leben“. Diese Einsicht wird der Direktor einer Papierfabrik und der Parteiverantwortliche eines Werkes in der Ukrainischen SSR wohl nur mit Mißbehagen teilen. Die Prawda berichtete in ihrer Freitagsausgabe jedenfalls, daß beide entlassen wurden, als herauskam, daß sie die Regionalzeitung an der Untersuchung der Mißstände in dem Betrieb in der Stadt Iwanowo– Frankowsk gehindert hatten. Der Vorsitzende des ukrainischen Journalistenverbandes, Nikolaj Tschibik, wertete den Vorfall als Beweis für „die Wirksamkeit der Presse und ihre wachsende Rolle im Leben des Landes“. Die Behörden seien hellhöriger geworden und würden rascher auf Kritik und Empfehlungen reagieren. er