Die Warnung

■ DDR–Fernsehen zeigt Tschernobyl–Film

Deutschland im Februar: In der ARD wird der Report–Redakteur Wolfgang Moser wegen seines brisanten Beitrags über erhöhte Leukämie–Raten im Umfeld von Atomkraftwerken strafversetzt. Im DDR–Fernsehen wird kurzfristig der sowjetische Dokumentarfilm „Die Warnung“ über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ins Programm aufgenommen und zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Der Film ist in vieler Hinsicht sensationell. Seiner eindrücklichen Wirkung kann sich kein Zuschauer entziehen. Wenn die Kamera durch verlassene Wohnungen schwenkt und die zurückgebliebenen Habseligkeiten der Evakuierten als letzte Lebenszeichen einer nicht mehr bewohnbaren Welt dokumentiert, dann wird mit diesen Bildern in wenigen Sekunden der jahrelange Propaganda–Fallout der Atomindustrie ausgelöscht. Dieser Film vermittelt eine Ahnung von dem, was am 26. April 1986 wirklich passiert ist. Der Super–GAU einmal nicht als schillernde Garnierung in der nach Superlativen lechzenden westlichen Medienwelt, sondern als menschliche Tragödie, als sinnlich erfahrbarer Größter Anzunehmender Unfall. Die skeptische Einschätzung der Atomindustrie, die herbe Kritik an Behördenschlamperei, sozialistischer Bürokratie und Verantwortungslosigkeit, das Offenlegen der Hilflosigkeit und der Fehler beim Katastrophenschutz stellen eine völlig neue Qualität dar. Ähnlich selbstkritische Äußerungen waren in der DDR bislang nicht zu sehen und zu hören. Die bundesdeutschen Fernsehanstalten werden erst noch beweisen müssen, ob ihre öffentlich–rechtliche Ausgewogenheitsmaschine solch einen Film verkraftet. Werden sie es wagen, die Dokumentation unkommentiert und ohne anschließende „Diskussion“ mit Beruhigungsaposteln der Atomgemeinde ins Abendprogramm zu bringen? Man darf daran zweifeln. Manfred Kriener