Deregulierung in USA: Staat zieht sich zurück

■ Die Aufgabe staatlicher Kontrolle fördert kurzfristig den Wettbewerb, führt aber langfristig zur Verdrängung der Kleinen / Oligopole bilden sich

Von Martin Kilian

Washington (taz) - Kaum ein amerikanischer Lebensbereich, in dem ihre Auswirkungen sich nicht manifestieren, kaum ein amerikanischer Wirtschaftssektor, dessen Struktur nicht durch sie verändert wurde: Von „Deregulation“ ist die Rede, jenem wirtschaftspolitischen Zauberwort, das seit dem Ende der siebziger Jahre in den Vereinigten Staaten die Runde macht. Daß die „Entstaatlichung“ des Wirtschaftslebens, die Aufhebung unzähliger Regierungsvorschriften und -richtlinien, die amerikanische Wirtschaft bis ins Mark verändert haben, ist gewiß. Umstritten ist freilich, ob der Rückzug Washingtons zugunsten des freien Spiels der Marktkräfte für Amerikas Wirtschaft und Verbraucher langfristig von Vorteil sein wird. Den Anfang machte die Regierung Carter: Unter großem Beifall beider Kongreßparteien deregulierte man zuerst das Flugwesen, dann die Straßentransporte, endlich die Eisenbahnen. Und bereits vor dem Amtsantritt der Reagan– Administration war klar, daß der neue Präsident nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den Verbraucher– sowie den Umweltschutz „deregulieren“ würde. Eigentumsrechte und Freiheit seien „untrennbar“ miteinander verbunden, sagte Ronald Reagan im Mai 1980. Die Deregulierung der Märkte wurde, etwa im Bank– und Kommunikationssektor, von der neuen Washingtoner Administration fortgesetzt, hinzu kam jedoch die sogenannte „soziale Deregulierung“: Nicht mehr eigens geschaffene Regierungsbehörden sollten das Sozialverhalten der Unternehmen und den Verbraucherschutz kontrollieren, sondern die Unternehmen selbst. „Die Revolte gegen die Regulierung, wie wir sie derzeit erleben, ist auch eine Revolte gegen regierungsseitigen Zwang und Eingriff“, sagte 1979 der Ökonom Alfred Kahn, von Präsident Carter mit der Deregulierung der Airlines beauftragt. Zwar sind die Flugpreise tatsächlich gefallen, unter den Airlines jedoch hat ein gewaltiger Konzentrationsprozeß eingesetzt. Nach einer Serie von Aufkäufen und Firmenübernahmen beherrschen nun die sechs größten amerikanischen Fluglinien zusammen 84 Prozent des amerikanischen Inlandsmarktes. 1978 hatte ihr Marktanteil 73 Prozent betragen. Aus der Erwartung, die Deregulierung werde zu einer Flut neuer Airlines und damit zu hartem und dauerndem Konkurrenzkampf führen, ist nichts geworden. Im Gegenteil: Die Billigfluglinie „People Express“, ein gefeiertes Ergebnis der Deregulierung, strich vor kurzem die Segel und wurde ebenso von der Airline–Holding „Texas Air“ aufgekauft wie „Eastern Airlines“. Experten fürchten, am Ende und nach einer weiteren Marktbereinigung werde das Flugwesen ein Oligopol sein - die Zeche zahlen dann die Verbraucher in Form höherer Flugpreise. Großkonzerne beklagen Monopolisierung Ähnlich sieht es im ebenfalls deregulierten Eisenbahnwesen aus. Gab es vor der Deregulierung noch dreizehn größere Eisenbahngesellschaften, so teilen sich nun sechs Riesen - drei im Osten der Vereinigten Staaten, drei im Westen - 86 Prozent der Fracht und 93 Prozent der Gewinne. Kleinere Eisenbahnen, die zur Zeit der Regulierung über feste Linien verfügten, sind zu abhängigen Zulieferern geworden. Den auf den Schienentransport angewiesenen industriellen Großkunden beschert dieser Konzentrationsprozeß schon jetzt höhere Transportkosten, weshalb eine Gruppe großer Unternehmen, darunter Ford und Union Carbide, die sechs Riesen vor kurzem beschuldigt hat, die Frachtpreise durch eine Verminderung des Wettbewerbs hochtreiben zu wollen. Weniger klar sind bisher die Auswirkungen der Deregulierung auf das Bank– und Kommunikationswesen. Kritiker der Deregulierung des Bankwesens weisen zwar darauf hin, daß die Zahl gescheiterter Banken seit dem Beginn der Deregulierung erheblich angestiegen ist, doch haben dazu eine Reihe anderer Faktoren beigetragen. Dennoch drängt der neue Vorsitzende des Bankenausschusses im amerikanischen Senat, der Demokrat William Proxmire (Wisconsin), auf eine Novellierung der Bankengesetzgebung, um einen weiteren Konzentrationsprozeß zu verhindern und gleichzeitig ein Mindestmaß staatlicher Bankenaufsicht zu garantieren. Man müsse jetzt handeln, so Proxmire, denn andernfalls werde es bald „ein gänzlich anderes“ und vom Kongreß so nicht erwünschtes Finanzsystem in den Vereinigten Staaten geben. Im Kommunikationswesen hat sich trotz der Deregulierung die überragende, einem Monopol gleichkommende Stellung der „American Telephone and Telegraph“ (ATT) erhalten; Angreifer wie die Discount–Telefonfirmen „Sprint“ und „MCI“ haben sich wohl minimale Marktanteile ergattert, müssen jetzt aber zu einem Kostenpreis von fünf Milliarden Dollar ein eigenes Fiberoptik–Telefonnetz aufbauen. Falls sie die Rieseninvestitionen verkraften und die Stabilität des Fernsprechmarktes nicht durch ein Überangebot in Gefahr gerät, können Amerikas Verbraucher tatsächlich mit billigeren Raten rechnen. In den bisher deregulierten Bereichen hat sich jedoch gezeigt, daß ein Konzentrationsprozeß schon deshalb schwer vermeidbar ist, weil die „Verteidigungsbarrieren“ etablierter Firmen für neueinsteigende Unternehmen vielfach unüberwindlich sind und der Einstieg ungeheuere Kapitalmengen verlangt. Überdies droht immer die Gefahr, daß umsatzstärkere und erfahrene Altunternehmen durch Dumpingpreise den Angriff abwehren und sich eine Monopolstellung sichern. So ist denn nicht weiter verwunderlich, daß Teile der amerikanischen Wirtschaft die Lust an der Deregulierung verloren haben. Als die Regierung Reagan 1981 etwa versuchte, die „Federal Trade Commission“ gänzlich auszuschalten, erhob sich vor allem von seiten kleinerer und mittlerer Firmen lauter Einspruch, worauf der Plan aufgegeben wurde. Nicht anders verlief der Versuch, die Alkoholindustrie zu deregulieren: Destillateure und Winzer lobbyierten erfolgreich dagegen. Und nicht nur die Einschränkung staatlicher Aufsicht über wichtige Sektoren der amerikanischen Wirtschaft ist unter Beschuß geraten, sondern auch die Lockerung staatlicher Richtlinien im Umwelt– und Verbraucherschutz. Kritiker der Deregulierung weisen darauf hin, daß Amerikas wirtschaftliche Konkurrenten, allen voran Japan und Westeuropa, ein dichtes Netz von Kontrollen und Vorschriften über ihre Volkswirtschaften gezogen hätten. Im Gegensatz zu diesen vereinheitlichten Bestimmungen im Bereich der Sicherheit am Arbeitsplatz und des Umwelt– und Verbraucherschutzes droht nun in den Vereinigten Staaten die Gefahr, daß die Einzelstaaten angesichts des Rückzugs der Bundesregierung eigene Regulierungen schaffen und der Markt dadurch auf gefährliche Weise zersplittert wird. Schon haben einige amerikanische Unternehmen Büros eingerichtet, die sich nur mit den Vorschriften der Bundesstaaten befassen. So hält die Debatte über Wünschbarkeit und Folgen der Deregulierung weiter an, die Forderung nach einer unbedingten Entstaatlichung des Wirtschaftens ist indessen oftmals einer vorsichtigeren Beurteilung gewichen.