Infam: Italien protestiert jetzt schweigend

■ Bei Protestdemonstrationen schweigen die sonst lautstarken Italiener neuerdings, und Minister und Chefs geraten über diesen ungewohnten Protest in heillose Verwirrung / Bei Verhandlungen lautet das Motto: Schweigen und Auflaufen lassen

Aus Rom Werner Raith

Valerio Zanone, seines Zeichens Industrieminister, hat seine sonst mächtige Stimme auf Zimmerlautstärke gesenkt; trotz Verstärkung ist er im großen Saal des „Palazzo dei Congressi“, wo die italienische Energiekonferenz über das Atomprogramm debattiert, nur schwer zu verstehen. Dennoch ist eine verhaltene Aggressivität zu spüren, besonders wenn sein Blick immer wieder zur Seite schweift: dort, hinter den sogenannten „35 Weisen“ aus Wissenschaft und Technik, hat wenige Momente vor Zanones Eröffnungsrede Mario Capanna Stellung bezogen. Capanna ist Vorsitzender der Ein–Prozent–Partei „Democrazia proletaria“, gilt als eine Art Volkstribun und ist bekannt für laute und kräftige Sprüche. Insofern bedeutete Capannas Auftritt zunächst für Zanone kein Problem - auch er weiß zu agitieren, und das Publikum hier besteht zum großen Teil aus seiner Klientel: Industrielle, Atom–Manager, Banker, Politiker. Doch Zanone braucht zuerst die „Störung“ durch Capanna, ehe er lospoltern kann. Aber nichts dergleichen passiert. Schweigend und bewegungslos hält der Demoproletarier Wache neben Transparenten, auf denen nur steht: „Für eine Zukunft ohne Atom“, und „Nein zur Konferenz–Farce. Ja zum Refe rendum gegen die Atomenergie“. Es bleibt nichts übrig: Zanone muß seine Rede halten! Doch die fehlende Attacke bringt ihn immer mehr durcheinander; er verhaspelt sich, und statt sein bedingungsloses „Ja“ zum Atom ins Auditorium zu schmettern, wird die Rede zu einem unentwegten „ja, nein, sowohl, aber auch, wenn - dann, oder?“ Manches klingt nach Rückzug: „Ich vollziehe hier eine Entscheidung des Parlaments, nicht meinen Willen“, brummelt er einmal. Da grinst Capanna dann doch. Den schweigenden Protest hat Capanna vor zwei Wochen selbst erst lernen müssen - im Hafen von Genua. Da hatte er seinerseits eine schöne Rede mitgebracht, um Streikende beim Aufstand gegen eine neue Arbeitsstruktur und gegen ihre lahmen Gewerkschaftsbosse zu unterstützen, die vor den Hafenmanagern gekuscht hatten: Zum Erstaunen Capannas wollten die Docker aber auch von ihm keine Rede hören. Sie wollten überhaupt nichts hören - schweigend zogen sie statt dessen unter das Fenster des Hafen–Oberaufsehers DAlessandro, der den neuen Plan ausgeheckt hatte, und starrten finster zum Büro hinauf. „Habt ihr gesehen“, fragte zufrieden nach der Demonstration der gefeuerte Arbeitersprecher Paride seine Kollegen, „wie der die ganze aufgeplusterte Luft jetzt woanders ablassen muß?“ Es ging wohl nicht nur dem Generalmanager der Reedereien so, sondern auch den zu seiner Unterstützung eingeflogenen Politikern und Gewerkschaftsbossen aus Rom. Sie alle hatten, wie gewohnt, ihre Ansprachen auf die mutmaßlichen Forderungen der Hafenarbeiter abgestellt, um ihnen dann klarzumachen, daß das alles nicht ginge. Aber was fängt man an mit einem Pulk zugeknöpfter Werktätiger, die nicht mal sagen, was sie wollen, die das Stichwort verweigern? Fortan wußten die Herrscher über Schiffe und Container: Sie mußten Angebote machen. Eine fatale Situation, denn man weiß ja nie, ob die Gegenseite nicht viel weniger wollte und man nun viel zuviel anbietet. Auch die Gewerkschafter rutschen seither unruhig herum, bemäkeln den von ihnen selbst unterschriebenen und noch vor Wochen gelobten Vertrag mit den Industriellen. Jedenfalls sind seither angeblich wieder „Verhandlungen möglich“ - obwohl die Kapitalseigner vor zehn Tagen als „letztes Wort“ das gesamte Gebiet unter Staatsaufsicht hatten stellen lassen. „Gerade im rhetorikgewohnten Italien“, deutet der Sprachforscher Tullio De Mauro den Erfolg, „wo ausholende Gesten und hohle Sprüche alles sind, empfinden die Mächtigen Schweigen wohl eher als Bedrohung denn das Geschrei und Steinwürfe.“ Das Beispiel von Genua macht in Italien Schule. Ob Arbeiter in Neapel nach den Camorra–Schüssen auf Betriebsbesetzer ihren Politikern mangelnden Schutz vor Gangstern vorwerfen, oder ob ihre Kollegen in Palermo Arbeitsplätze anmahnen, die ihnen nach Schließung mafioser Firmen versprochen wurden, ob das Krankenhauspersonal unzureichende Grundausstattungen beklagt oder die Müllmänner gegen unzumutbare nächtliche Zusatzschichten aufbegehren - stets beginnen sie nun mit einem „stummen“ Protest. Als vergangene Woche die Lastwagenfahrer in den Ausstand traten, gab es keinerlei konkrete Forderungen - die mußten sich die Politiker aus dem (erfolglosen) Streik vom vergangenen Jahr zusammenreimen. Erfolg: Die bisherige Methode „Der eine dreht, der andere schleift“, funktionierte nicht mehr. Bis dato hatten vier Minister (Transport–, Verkehrs–, Finanz– und Wirtschaftsminister) die Brummi– Fahrer getrennt empfangen, so daß der eine zurücknehmen konnte, was der andere versprochen hatte. Da es aber nun keine konkreten Forderungen gab, bevollmächtigten die vier einen der ihren herauszufinden, was die Transporter denn nun wollten. Doch als der Transportminister mit seinem Hofstaat von Experten anrückte, sah er sich nur einem einzigen Delegierten gegenüber - der wollte sich „nur mal anhören, was die Regierung zu bieten hat“, dann ging er wieder. Die Regierung mußte auf Schleichwegen herausfinden, daß die Straßenkapitäne „konkrete Angebote direkt vom Ministerpräsidenten“ erwarteten - die denn auch prompt kamen, als auf Italiens Straßen das Benzin ausging. Themen wie Höchstgeschwindigkeit, Arbeitszeitregelung, Feiertagsfahrverbote, Aufhebung der drastisch erhöhten Strafen für Verkehrsübertretungen von LKW–Fahrern, voriges Jahr noch tabu, sind für die Regierung plötzlich doch „verhandlungsfähig“. „Stark durch Schweigen“ sprühten Protestler an Roms Mauern. Minister Zanone auf der Energiekonferenz blickt sich jedenfalls hoffnungsvoll um, als gegen Ende seiner Rede hinter ihm ein Rascheln zu hören ist - rührt sich Capanna doch? Nein! Es ist nur einer der 35 Weisen, der Professor Bettini, der als einziger des Experten–Klüngels zu den Atom– Kritikern gerechnet wird. Ob der nun doch noch das störende Stichwort liefert? Fehlanzeige! Der Professor zieht aus seiner Tasche nur ein Plastik–Skelett heraus und hält es fortan liebevoll im Arm. Schweigend natürlich.